Wenn Antikörper bestimmte Viren spezifisch binden, können sie zur Diagnostik und zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt werden (Bildquelle: iStock)
29. November 2022

Computergestützte Antikörpersuche

Das Immunsystem verteidigt uns gegen Krankheiten. Es besteht aus unzähligen Zellen, die Krankheitserreger angreifen oder Antikörper produzieren. Enkelejda Miho, Forscherin für digitale Lebenswissenschaften an der Hochschule für Life Sciences FHNW, durchsucht das Immunsystem nach einzelnen Antikörpern, die ganz spezifisch für bestimmte Krankheiten zuständig sind. Es ist die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen: Ohne die Hilfe von Computern und einer künstlichen Intelligenz wäre Enkelejda Mihos Unterfangen aussichtslos.

Enkelejda Miho, wann hatten Sie zum ersten Mal mit einer künstlichen Intelligenz (KI) im Labor Kontakt?

Das war vor etwa acht Jahren während meiner Doktorarbeit an einem ETH-Institut in Basel. Wir haben KI angewendet, um alle Antikörper eines einzelnen Patienten am Computer zu untersuchen. Dafür bestimmt man den Bauplan jedes einzelnen Antikörpers und sortiert die Antikörper dann entsprechend ihrer Ähnlichkeit zueinander. So bekamen wir erst mal einen Überblick über das gesamte Immunsystem eines Menschen. Dieses Netzwerk war mein Einstieg in die Forschung mit Antikörpern und KI.

Was fasziniert Sie an diesem Thema?

Die Komplexität des Immunsystems. Es ist wie ein Rätsel, bei dem es noch keine Antwort gibt – und gleichzeitig ein Schlüssel, wie wir Medikamente gegen Infektionen oder Krebs entdecken und diese Krankheiten heilen können.

Portrait von Enkelejda Miho
Enkelejda Miho, Professorin für Digitale Lebenswissenschaften an der Hochschule für Life Sciences FHNW (Bildquelle: FHNW).
Und wie kann die KI da helfen?

Wir haben in unserem Immunsystem Antikörper und Abwehrzellen. Beide sind wichtig, um Krankheiten abzuwehren und die Immunantwort zu regulieren. Jeder und jede von uns hat Milliarden verschiedene davon. Gleichzeitig hat jede Person ihr eigenes, einzigartiges Immunsystem, das sich auch über die Lebenszeit verändert. Es ist ein riesiges, komplexes und dynamisches System. Wenn wir es analysieren, liefert es grosse Datenmengen. Die KI ist sehr gut darin, Muster in diesen Daten zu erkennen – besser als jeder Mensch. Anhand dieser Muster kann sie die Immunantwort gegen einzelne Krankheiten identifizieren, und das hilft uns, sie zu verstehen.  

«Mit dem Antikörper-Test wüsste man sehr früh und ganz genau, was dem Patienten oder der Patientin fehlt und wie man es behandeln kann.»
Enkelejda Miho, Forscherin für digitale Lebenswissenschaften am Institut für Medizintechnik und Medizininformatik der Hochschule für Life Sciences FHNW
Können Sie bitte erklären, wie Sie bei einem solchen Experiment vorgehen?

Alles beginnt mit der Blutprobe eines Patienten oder einer Patientin. Wir isolieren daraus die Immunzellen und sequenzieren jede einzeln. Das heisst, wir identifizieren ihre einzelnen Bausteine und bestimmen, in welcher Reihenfolge – also welcher Sequenz – diese Bausteine vorkommen. So wissen wir genau, wie jeder einzelne dieser Antikörper aufgebaut ist. Diese Milliarden von Sequenzen werden dann von der KI untersucht. Es gibt zum Beispiel Antikörper, die ganz spezifisch ein Virus wie das Coronavirus erkennen. Mit solchen Antikörpern können wir also eine Diagnose stellen. Antikörper eignen sich aber auch zur Behandlung von Krankheiten. Sie binden nämlich an einen Krankheitserreger und machen ihn so unschädlich. Wenn wir genügend Daten zu einem Krankheitserreger haben, kann die KI mittlerweile sogar vorhersagen, welche Antikörper aus dem Blut wohl an diesen Krankheitserreger binden. Das hat ein enormes Potenzial.

Eine Montage aus einem Bild des Antikörpers und einer Darstellung des menschlichen Gehirns aus Schaltkreisen.
Wenn die künstliche Intelligenz die Identität jedes einzelnen Antikörpers kennt, kann sie daraus Informationen über die Krankheitsgeschichte oder den Gesundheitsstatus von Patient*innen ableiten. Composing: nuevo.ch (Bildquelle: FHNW und iStock)
Für welche Krankheiten haben Sie diese Technologie bereits angewendet?

Angefangen haben wir mit einem Projekt zum Dengue-Fieber. Diese Krankheit wird von einem Virus ausgelöst, von dem es vier verschiedene Typen gibt. Die Erstinfektion mit dem Virus ist ungefährlich. Infiziert man sich aber zum zweiten oder dritten Mal mit einem anderen Dengue-Virustyp, tritt ein sehr hohes und manchmal tödliches Fieber auf. Wir mussten also Antikörper finden, die gegen alle vier Typen gleichzeitig helfen. Die KI hat tatsächlich einige vielversprechende Antikörper entdeckt, die wir jetzt im Labor testen. Aber wir denken bereits weiter: Das Immunsystem ist wie ein Frühwarnsystem, das nicht nur Infektionen erkennt, sondern auch körpereigene Krankheiten. So kann die KI mit dem richtigen Training Antikörper gegen Krebs im Blut identifizieren und den Krebs schon sehr früh entdecken, bevor er fortschreitet und Metastasen bildet. Auch bei Autoimmunkrankheiten, die heute oft noch sehr schwer zu klassifizieren sind, könnte die KI helfen.

«Die KI ersetzt keine menschliche Arbeit. Wir brauchen mehr Menschen, die die KI verstehen und mit ihr arbeiten können.»
Halten Sie es für möglich, dass einmal alle Krankheiten aus einer einzigen Blutprobe heraus diagnostiziert werden können?

In der Theorie ist das bereits heute möglich. Praktisch gibt es aber noch Herausforderungen: Einerseits bildet eine kleine Blutprobe nicht das gesamte Immunsystem ab. Wir müssen noch herausfinden, wie wir von der Blutprobe auf alle Immunzellen schliessen können. Andererseits brauchen wir für jede Krankheit, die wir diagnostizieren möchten, einen sehr grossen Satz an qualitativ hochwertigen Daten. Diese braucht die KI zum Vergleich, damit sie lernen kann, die Muster zu erkennen. Viele Krankheiten sind aber noch nicht so gut untersucht, oder die Daten liegen nicht digitalisiert vor, und sind deshalb unzugänglich für die KI. Idealerweise müsste man die Untersuchungsergebnisse aus der Klinik, den Laboruntersuchungen und unseren Sequenzierungen miteinander kombinieren und so einen «digitalen Zwilling» des Patienten oder der Patientin erstellen. Heute sind diese drei Datensätze aber oft noch getrennt voneinander und das behindert die Forschung. Ich wünsche mir, dass sich das ändert und die KI uns in Zukunft helfen kann, noch viel mehr Krankheiten zu diagnostizieren und individuell für jeden Patienten und jede Patientin schnell eine passende Therapie zu finden.

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