Das modulare Sofa INCLUFA lässt sich für verschiedene Körpergrössen anpassen. Bild: Natascha Hess
9. Juni 2022

Design im Umbruch – Was ist normal?

Wenn ein neues Produkt auf den Markt kommt, soll es attraktiv und nutzbar sein – möglichst für alle. Das stellt Design-Fachleute vor eine knifflige Frage: Wen sprechen sie mit ihrem Design an und wen eher nicht? Und ist das so gewollt?

Das perfekte Sofa gibt es (noch) nicht. Es muss bequem sein, wenn man darauf sitzen oder liegen möchte, stabil und schmutzresistent. Und es muss für Menschen mit verschiedenen Bedürfnissen und körperlichen Voraussetzungen gleich gut funktionieren. Für Kinder darf es nicht zu hoch sein, wohingegen alte, gebrechliche Menschen genau das wünschen: eher höher sitzen, um leichter aufstehen zu können. «Auf den ersten Blick erscheint es schwierig, all diesen Anforderungen mit einem einzigen Produkt gerecht zu werden», sagt Meret Ernst von der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW. «Man muss sich in verschiedene Personengruppen einfühlen und ihre Bedürfnisse analysieren.» Der FHNW-Studentin Natascha Hess ist das im Rahmen ihrer Bachelorarbeit gut gelungen. Sie hat ein Sofa designt, das für junge und alte sowie grosse und kleine Menschen gleichermassen funktioniert.

«Die Frage, ob und wie Design inklusiv sein kann, beschäftigt uns schon lange.»
Meret Ernst, Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW

Schwere Arbeit

Natascha Hess hat im Studiengang «Industrial Design» an der HGK FHNW studiert und hat das Thema ihrer Bachelorarbeit bewusst gewählt: «Ich möchte, dass Design für alle Menschen passt, unabhängig, wie gross oder wie stark jemand ist.» Die gelernte Steinbildhauerin wusste, wovon sie spricht: Als Frau in einem männerdominierten Beruf musste sie mit wuchtigen Werkzeugen arbeiten und regelmässig schwere Zementsäcke schleppen. «Die Zementsäcke sind auf 25 Kilogramm genormt, dabei darf eine Frau laut SUVA-Norm nur 20 Kilogramm regelmässig tragen», erklärt der Berliner Designer und Dozent an der HGK FHNW Sebastian Stroschein, der mit Meret Ernst die Bachelorarbeit betreut hat. «Kein Wunder, dass solche Normen zu Arbeitsbedingungen führen, die Frauen eher abschrecken.»

Natascha Hess, Absolventin des Studiengangs «Industrial Design» an der HGK FHNW. Foto: André Hönicke

Frauen werden vergessen

Auch im Alltag sind die meisten Normen nicht auf Frauen ausgelegt. Selbst in sicherheitsrelevanten Bereichen wie beim Autofahren zählen die Masse des mitteleuropäischen «Durchschnittsmanns». So ist der typische Crashtest Dummy – die Puppe, die bei Autotests zum Einsatz kommt – 1,75 Meter gross und wiegt 78 Kilogramm. «Autositze und Airbags werden für den ‹Durchschnittsmann› designt und getestet», erklärt Stroschein. «Das ist gefährlich, denn laut einer amerikanischen Studie werden Frauen bei Autounfällen schwerer verletzt und sterben häufiger als Männer – obwohl sie insgesamt seltener in Unfälle verwickelt sind.»

Wenn Unterschiede zwischen den Geschlechtern beim Design und in anderen Bereichen ignoriert oder einfach vergessen werden, sprechen Fachkreise vom sogenannten «Gender Data Gap». Diese geschlechterbezogene Lücke besteht fast immer zulasten der Frauen und schliesst auch fehlende Lohngleichheit, frauenunfreundliche Raumplanung oder ungeeignete Arbeitsbekleidung mit ein. Stroschein dazu: «Wenn Frauen in ihren Berufen Arbeitsoveralls tragen müssen, ist es für sie viel schwieriger, beispielsweise auf die Toilette zu gehen. Die normierten Overalls eignen sich meistens nur für Männer.»

«Die Gesellschaft wandelt sich und das Design von Alltagsgegenständen bildet das ab. Man muss da mit der Zeit gehen, darf den Menschen aber nichts überstülpen.»
Sebastian Stroschein, Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW

Eine normierte Welt

Ohne Normen geht heute fast gar nichts mehr, zumindest in Bereichen, wo die Sicherheit und die Gesundheit von Menschen betroffen ist oder Effekte auf die Umwelt zu erwarten sind. Entgegen der landläufigen Meinung werden Normen weder von der Politik noch von den Behörden erstellt. Normen entstehen aus der Praxis, wie Meret Ernst weiss: «Wenn Berufsleute, Organisationen oder Interessensvertretungen feststellen, dass es zum Beispiel wegen der Sicherheit eine allgemeingültige Regelung braucht, erarbeiten sie eine Norm. Die Behörden sorgen dann dafür, dass die neue Norm auch verpflichtend umgesetzt wird.»

Ernst zufolge werden Normen immer kritischer gesehen. Sie stammen oft aus dem letzten Jahrhundert und vermitteln ein Weltbild, das den «weissen Mann» ins Zentrum stellt. Das steht heute in der Kritik. Unsere Gesellschaften werden immer bunter und Design soll diese Vielfalt auch abbilden.

Universales oder individuelles Design?

Wie sorgt man nun dafür, dass das entwickelte Design niemanden ausschliesst? «Die Designtheorie hat dafür verschiedene Lösungen», erläutert Ernst. «Universales Design zum Beispiel sucht nach Vorschlägen, die für möglichst viele Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen passen.» Gleichzeitig legen viele Menschen bei Produkten grossen Wert auf Individualität. Digitale Lösungen helfen dabei: So können Sneaker beispielsweise vor dem Kauf nach eigenem Wunsch gestaltet werden, modulare Möbelsysteme bieten hohe Flexibilität. Die Balance zu finden zwischen dem, was nötig und was wünschenswert, was praktikabel und was aufwendig ist, das bleibt eine Herausforderung.

Es braucht viele Ideenskizzen bis zum Universal-Sofa.Bild: Natascha Hess
«Ich möchte, dass Design für alle Menschen passt, unabhängig der körperlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse der Nutzergruppe.»
Natascha Hess, Absolventin des FHNW Studiengangs «Industrial Design»

Natascha Hess hat diese Herausforderung in ihrer Bachelorarbeit an der FHNW angenommen: Sie hat in Umfragen die Bedürfnisse von Sofa-Nutzenden erfragt und anhand dieser Kriterien einen Prototyp für ein modulares Sofa entworfen, das für möglichst viele Menschen geeignet ist. Herausgekommen ist eine Sofa-Kombination mit verschiedenen Bereichen und unterschiedlichen Sitzhöhen fürs Liegen, Sitzen, Essen und Arbeiten. Und auch wenn das Sofa wohl ein Prototyp bleiben wird, hat die Studentin mit ihrer Arbeit spannende Denkanstösse zur Weiterentwicklung des Designs von Alltagsgegenständen und zur Neuausrichtung von Normen in der Arbeitswelt gegeben.

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