Eine breit angelegte Studie der FHNW hat das Thema Obdachlosigkeit in der Schweiz untersucht. Foto: istock.com/megakunstfoto
9. Juni 2022

Kein Dach über dem Kopf

Auch in der reichen Schweiz leben Menschen auf der Strasse. Niemand hat die Situation frei gewählt, die Menschen werden durch verschiedenste Umstände in die Obdachlosigkeit hineingedrängt. Eine landesweite Studie der FHNW gibt jetzt erstmals genauere Einblicke in ein Thema, bei dem viele gern wegschauen.

«Bis zu 2740 Menschen leben in der Schweiz an einem gewöhnlichen Tag ohne ständiges Dach über dem Kopf», schätzt Jörg Dittmann, Soziologe an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, die hiesige Lage ein. Bisher war wenig über diese Menschen bekannt. Dittmann und ein Team von sechzig Studierenden sind deshalb auf die Strasse, in Gassenküchen und in Notschlafstellen gegangen und haben Betroffene direkt befragt. In dem vom Schweizerischen Nationalfonds SNF geförderten Projekt wollten die Fachleute wissen, wie gross das Ausmass der Obdachlosigkeit in der Schweiz ist, wer auf der Strasse unter welchen Bedingungen lebt und wie es dazu kam. Ihr Fazit: Die Hintergründe der Obdachlosigkeit in der Schweiz sind so divers wie die betroffenen Personen selbst. Und es braucht mutige Lösungen, um die Situation der Obdachlosen zu verbessern.

«Auch Schweizerinnen und Schweizer sind von Obdachlosigkeit betroffen. Sie haben oftmals Suchtprobleme oder Schulden und beantragen aus Scham oder Sorge um negative Konsequenzen keine Sozialhilfe.»
Jörg Dittmann, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW

Ohne Papiere, ohne Dach

Doch was bedeutet «obdachlos» überhaupt? «Von Obdachlosigkeit im engeren Sinne sprechen wir, wenn Menschen auf der Strasse, auf öffentlichen Plätzen oder in Notschlafstellen ohne Tagesaufenthalt übernachten», sagt Forscherkollege Matthias Drilling von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Knapp zwei Drittel der Betroffenen seien Sans-Papiers, also Menschen, die sich ohne gültige Ausweispapiere in der Schweiz aufhalten. «Durch ihren Status trifft es diese Personen besonders häufig, denn sie können keiner sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgehen und offiziell keinen Wohnraum mieten», erklärt Drilling. Meistens würden sie in fragwürdigen Unterkünften oder bei Bekannten unterkommen. Dadurch hätten sie kaum Wohnsicherheit und könnten von heute auf morgen aus einer Wohnung geworfen werden. Selbst Hilfsprogramme wie Notschlafstellen nutzen sie kaum – aus Angst, von dort den Migrationsbehörden gemeldet zu werden.

Eine Männerwelt

«Auch Schweizerinnen und Schweizer sind von Obdachlosigkeit betroffen», berichtet Jörg Dittmann. «Sie haben oftmals Suchtprobleme oder Schulden und beantragen aus Scham oder Sorge um negative Konsequenzen keine Sozialhilfe.» Dann dreht sich die Abwärtsspirale: Wenn sie nicht mehr in der Lage sind, einer Arbeit nachzugehen oder ihre Miete zu bezahlen, landen sie irgendwann auf der Strasse. Dabei ist der Frauenanteil unter den Obdachlosen mit 17 Prozent eher niedrig. Dittmann zufolge gibt es dafür mehrere Gründe: Einerseits ist das Leben auf der Strasse für Frauen härter und gefährlicher, andererseits verfügen sie häufiger über ein Netzwerk, das ihnen in einer Notsituation Unterschlupf gewährt. «Die geringe Anzahl obdachloser Frauen darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie in Armut oder an deren Grenze leben», sagt der Forscher. Obwohl alleinerziehende Mütter in der Schweiz am meisten von Armut betroffen sind, werden sie nicht selten nur durch ihren Nachwuchs vor der Obdachlosigkeit bewahrt. «Für diese Fälle gibt es hierzulande ein funktionierendes Sicherheitsnetz», sagt Dittmann.

«Von Obdachlosigkeit im engeren Sinne sprechen wir, wenn Menschen auf der Strasse, auf öffentlichen Plätzen oder in Notschlafstellen ohne Tagesaufenthalt übernachten.», erklärt Matthias Drilling von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW.

Schwierige Erhebung

Die Forschenden und Studierenden der FHNW haben ihre Befragungen zur Obdachlosigkeit an zwei Zeitpunkten in den Pandemiejahren 2020 und 2021 durchgeführt. Trotz der erschwerten Bedingungen waren sie in in den Städten Basel, Bern, Genf, Lausanne, Lugano, Luzern, St. Gallen und Zürich vor Ort. Von den insgesamt 1182 Befragten lebten 543 Personen an den Interviewtagen ohne festes Dach über dem Kopf, die meisten davon in Genf.

Die Gesamtzahl der Obdachlosen in der Schweiz ist Dittmann zufolge jedoch höher und lässt sich auch mit Zählungen nicht hundertprozentig genau berechnen, denn eine Erhebung ist immer nur eine Augenblicksaufnahme an einem bestimmten Ort. «Es ist schwierig, obdachlose Menschen zu finden, denn sie suchen sich eher versteckte Orte und sprechen darüber nicht», sagt Dittmann. «Wir können durch unsere Interviews aber dennoch eine ziemlich verlässliche Übersicht über die Lebensumstände der Obdachlosen in der Schweiz liefern.»

Niederschwellige Wohnangebote helfen

Die Ergebnisse der FHNW-Forschenden decken sich in vielen Bereichen mit den Erkentnissen aus internationalen Studien. So könnten Obdachlose auch in der Schweiz von noch mehr niederschwelligeren Übernachtungsangeboten wie Notschlafstellen profitieren. Zudem könnten Angebote geschaffen werden wie «Housing first». Dabei werden einfache Wohnungen oder Zimmer zur Verfügung gestellt, zudem wird je nach Bedarf Unterstützung angeboten. Mit diesem Ansatz konnte beispielsweise Finnland einen Grossteil der Obdachlosen von der Strasse holen.

Ein weiteres, wenngleich in der Politik schwieriges Thema, sieht Dittmann im Bereich Migration: «Wer Obdachlosigkeit in der Schweiz bekämpfen und verhindern möchte, muss das Thema des Aufenthaltsrechts stärker in den Blick nehmen – unabhängig davon, ob der Verlust der Aufenthaltsbewilligung zu Obdachlosigkeit geführt hat oder mit dem Verlust der Wohnung oder der Arbeit zusammenhängt oder der legale Aufenthalt in der Schweiz aus anderen Gründen verloren ging.» Zudem müsse verhindert werden, dass betroffene Menschen von der Gesellschaft ausgeschlossen würden. «Exklusion ist ein Kern-Thema», so der Soziologe. «Sie führt dazu, dass viele in einem hinderlichen Umfeld gefangen bleiben.» Für das Dach über dem Kopf ist deshalb auch die Einbindung in eine unterstützende Gemeinschaft entscheidend.

Aus dem Schatten

Die Fotoserie «Blindspot» der Fotografin Nora Martin richtet ihr grelles Spotlight auf all die wohnungslosen Menschen, die gesellschaftlich in den Schatten gerückt werden. Wie durch die Linse der Gesellschaft werden die individuellen Gesichtszüge dieser Personen ausgeblendet – was bleibt, ist der abstrakte Umriss einer Person.

Diese Fotografie-Serie entstand in Kooperation mit der Arbeitsgruppe Obdachlosigkeit der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW.

noramartin.ch

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