Eine jüngere Frau hilft einer älteren Frau bei der Bedienung des Smartphones.
Ältere Menschen, die keine Unterstützung durch Angehörige haben, werden oft mit alltäglichen Dingen wie dem Gebrauch eines Smartphones allein gelassen. Forschende der FHNW fordern ein Recht auf Betreuung im Alter. Foto: Patrick Kälin, nuevo design studio
21. November 2023

Wenn keiner mehr hilft

Älter werden wir alle. Irgendwann im Alter kommt der Punkt, an dem wir auf Unterstützung angewiesen sind, um den Alltag zu bewältigen. Diese Care-Arbeit übernehmen oft Angehörige. Doch was ist mit den Menschen, die kein unterstützendes Umfeld haben? Das wollten Forschende der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in einer Studie herausfinden. Dafür hat das Team um Carlo Knöpfel, Isabel Heger-Laube und Rebecca Durollet dreissig ältere Menschen ohne betreuende Familienangehörige aus fünf Orten in der Deutschschweiz und der Romandie interviewt. Ihr Fazit nach Abschluss der Studie: Es gibt Handlungsbedarf. Ihre zentrale Forderung an die Politik: Ein Recht auf Betreuung im Alter.

«Menschen sollen autonom und selbstbestimmt in Würde alt werden können, unabhängig von ihrem sozialen Status», betont der Sozialwissenschaftler Carlo Knöpfel vom Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Der Forscher beschäftigt sich seit mehr als sieben Jahren mit Fragen zur alternden Gesellschaft und hat das Forschungsprojekt «Alt werden ohne betreuende Familienangehörige» der FHNW mit seinem Team erarbeitet und betreut.

Herr Knöpfel, warum fordern Sie ein Recht auf Betreuung?

Carlo Knöpfel (CK): Wer kein soziales Umfeld hat und auch keine finanziellen Mittel, dem droht soziale Isolation und Vereinsamung. Das Recht auf Betreuung soll sicherstellen, dass ältere Menschen die professionelle Unterstützung erhalten, die sie effektiv benötigen und auch wollen – unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten oder ihrem sozialen Status. Das gibt es anders als das bestehende Recht auf Pflege oder auf Hilfe noch nicht. Ein formelles Recht auf Betreuung muss erst noch geschaffen werden.

Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Sozialarbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW
Wo müsste dieses Recht verankert werden?

CK: Wir wissen von Gesetzesentwürfen auf Bundesebene sowie auf kantonaler Ebene. Darin geht es um die Ausweitung der Ergänzungsleistungen, um Betreuungsleistungen zu finanzieren. Auf kommunaler Ebene gehen die Städte Bern und Luzern voran. Sie haben bereits sogenannte Betreuungsgutschriften eingeführt, mit denen ältere Menschen konkrete Betreuungsangebote beziehen können.

Gibt es überhaupt einen Bedarf für solche Angebote?

Isabel Heger-Laube (IHL), Co-Leiterin der Studie: Mindestens acht Prozent der über 65-Jährigen werden ohne betreuende Familienangehörige alt. Dieser Anteil wird in den nächsten Jahren deutlich zunehmen. Zudem könnte sich jede oder jeder im Alter plötzlich in dieser Situation wiederfinden, sei es durch den Tod des Partners oder der Partnerin oder weil Angehörige zu weit entfernt leben oder die Betreuung nicht übernehmen können oder wollen. Somit gibt es ganz klar einen grossen Bedarf für Betreuungsangebote.

«Es wäre eine Revolution in der Altersarbeit, wenn deren Akteure die älteren Menschen nicht nur als hilfsbedürftig anschauen würden, sondern als Menschen, die der Gesellschaft etwas zurückgeben können.»
Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Sozialarbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW
Wie gut sind die Bedürfnisse der älteren Menschen ohne Angehörige bekannt?

Rebecca Durollet (RD), Co-Leiterin der Studie: Es war eines der Ziele unserer Studie herauszufinden, was die älteren Menschen selbst über ihre Situation denken. Wie geht es ihnen beispielsweise mit dem Alleinsein? Wie organisieren sie sich selbst im Alltag? Dabei zeigte sich, dass Alleinsein nicht gleich Einsamkeit bedeuten muss. Das Bedürfnis für soziale Kontakte ist individuell ganz verschieden. Wichtiger ist die Frage nach Hilfe und Unterstützung, wenn es um die praktische Bewältigung des Alltags geht. Ein Arztbesuch beispielsweise oder das Ausfüllen der Steuererklärung oder Hilfe im Haushalt. Einige organisieren sich Hilfe über lokale Vereine oder die Spitex. Aber nicht alle können sich das finanziell leisten oder es gibt Sprachbarrieren.

Wo informieren sich die Älteren, wenn sie Unterstützung benötigen?

IHL: Es gibt viele Informationen – vor allem digital. Aber gerade ältere Menschen ohne betreuende Familienangehörige haben Mühe, an diese Informationen zu kommen. Meist sind sie noch nicht so versiert im Umgang mit digitalen Technologien oder wie sie die Angebote finden. Das ist normalerweise eine wichtige Aufgabe, die Familienangehörige unbezahlt erledigen: sie unterstützen beispielsweise beim Einrichten des Smartphones, sammeln und sichten Informationen und geben sie den Älteren weiter. Wir empfehlen, dass Anlauf- und Informationsstellen geschaffen werden, die auch Personen ohne Angehörige erreichen.

Isabel Heger-Laube und Rebecca Durollet, Co-Leiterinnen der Studie «Alt werden ohne betreuende Familienangehörige». Fotos: Fotograf Marcel Laube; FHNW
Welche Rolle spielen hier die Akteure in der Altersarbeit?

RD: In einem Teil unserer Studie haben wir analysiert, inwieweit die gegenwärtigen Angebote der Altersarbeit bereits ältere Menschen ohne betreuende Familienangehörige berücksichtigen. Dabei zeigte sich, dass viele Altersorganisationen zu wenig differenzieren: Für sie sind das einfach ältere Menschen. Dementsprechend wird der Lebensrealität dieser Menschen keine oder zu wenig Beachtung geschenkt. Sie leben autonom, müssen ohne Angehörige klarkommen und haben oftmals Scheu, ein Unterstützungsangebot überhaupt anzunehmen.

Wie könnten die älteren Menschen erreicht werden?

CK: Meine These ist, dass es ihnen leichter fallen würde, ein Hilfsangebot anzunehmen, wenn sie nicht einseitig als Hilfeempfänger*innen wahrgenommen werden. Sie möchten nicht nur nehmen, sondern möchten gleichzeitig der Gesellschaft etwas zurückgeben können. Hier wollen wir ein Umdenken erreichen.

Die Studie «Ältere Menschen ohne betreuende Familienangehörige» (PDF, 5.6 MB) wurde finanziert durch die Beiträge von acht Stiftungen und Institutionen: der Age-Stiftung, Beisheim Stiftung, Christoph Merian Stiftung, Ernst Göhner Stiftung, Fondation Leenaards, Migros-Kulturprozent, Paul Schiller Stiftung und Walder Stiftung.

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