Personen mit blauen Latexhandschuhen arbeiten an einem Gerät im Labor. Kleine Flaschen mit einer klaren Flüssigkeit sind mit Schläuchen verbunden
Die Entwicklung neuer Medikamente ist oft kompliziert, aufwändig und teuer. Foto: Infors AG
21. November 2023

Medikamentenherstellung auf der Überholspur

Die Produktion neuartiger Medikamente ist kompliziert, aufwändig und teuer. Forschende der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW können die Produktionsprozesse mithilfe intelligenter Algorithmen in Echtzeit überwachen und steuern. So können Prozesse für neue Medikamente schneller entwickelt werden und die Qualität zu jeder Zeit überwacht werden.

Die Gesundheitskosten steigen. Ab 2024 muss jede und jeder Einzelne für die Krankenkassenprämien tiefer in die Tasche greifen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Doch ein Grund sind neuartige und hochpreisige Medikamente, sogenannte Biologika. Diese werden nicht chemisch, sondern von biologischen Systemen wie Bakterien oder tierischen Zellen hergestellt. Zu den Biologika gehören zum Beispiel Antikörper, die ein bestimmtes Merkmal von Krebszellen erkennen und diese spezifisch angreifen. Aber auch viele Medikamente gegen Autoimmunerkrankungen wie die rheumatoide Arthritis oder Gentherapien gegen Erbkrankheiten werden so produziert. Biologika sind viel zu komplex, als dass sie in herkömmlichen, chemischen Verfahren hergestellt werden könnten. Thomas Villiger, Dozent an der Hochschule für Life Sciences FHNW, vergleicht die beiden Medikamentenklassen so: «Moleküle wie Aspirin sind von ihrer Struktur so kompliziert wie ein Velo. Biologika sind eher wie Flugzeuge.»

Ein Forscher und eine Forscherin stehen in weissen Kitteln in einem Labor und abrieten an einem Gerät
Im Labor der Hochschule für Life Sciences FHNW arbeiten Forschende daran, die Prozesse zur Herstellung neuartiger Medikamente deutlich zu beschleunigen. Foto: Infors AG

Digitale Beschleunigung

Doch die Komplexität hat ihren Preis: Die Entwicklung und Produktion solcher Medikamente sind langwierig und aufwendig. Zuerst modifiziert man Zellen gentechnisch so, dass sie das gewünschte Produkt herstellen. Diese Zellen können für viele Jahre bei tiefen Minustemperaturen in Flüssigstickstoff aufbewahrt werden. Je nach Bedarf werden diese Zellen aufgetaut, vervielfältigt und schlussendlich in einem Bioreaktor kultiviert. Ein Bioreaktor ist ein spezieller, flüssigkeitsgefüllter Behälter, in dem die Zellkultur unter streng kontrollierten Bedingungen, wie Temperatur und Nährstoffgehalt, wächst. Nach mehreren Tagen oder sogar Wochen können die Forschenden das Rohprodukt aus dem Bioreaktor entnehmen, von Verunreinigungen befreien und analysieren. Wenn alles optimal gelaufen ist, wurde das richtige Molekül hergestellt und der Wirkstoff ist verwendbar. Wenn aber die Bedingungen nicht optimal waren oder die Zellen nicht wie erhofft gewachsen sind, war die ganze Arbeit umsonst und man muss das Produkt verwerfen. «Oft sieht man erst nach einem Monat, ob das Produkt auch wirklich die richtige Qualität hat. Das produziert viel Ausschuss und ist deshalb nicht nachhaltig», fasst Villiger zusammen.

Um den Prozess zu optimieren, nutzt Villiger die Möglichkeiten der Digitalisierung. In seinem Labor an der FHNW werden die Bioreaktoren zur Wirkstoffherstellung bis ins Detail überwacht. «Wir erfassen Tausende von Parametern, und das in Echtzeit», erklärt Villiger stolz. Dafür arbeitet seine Forschungsgruppe auch mit einer speziellen Sensortechnologie, der sogenannten Raman-Spektroskopie. Sie beleuchtet den Inhalt des Bioreaktors mit einem Laser. Einige Moleküle werfen das Licht in veränderter Form zurück und können gemessen werden. Doch die Messergebnisse sind oft kompliziert zu deuten, weil sich die Signale von unzähligen verschiedenartigen Molekülen, die in der Flüssigkeit schwimmen, überlagern. Mithilfe von Maschinellem Lernen werden sie entwirrt und Einzelmolekülen zugeordnet. Ist das erledigt, haben die Forschenden wertvolle Daten gesammelt und können viele wertvolle Rückschlüsse ziehen.

Thomas Villiger leitet die Arbeitsgruppe Prozesstechnik an der Hochschule für Life Sciences FHNW

Ausprobieren und Trainieren

Dank dieser Datenmengen können Villiger und sein Team die Algorithmen genauer trainieren. Denn für die Computersysteme sind die Daten, mit denen sie gefüttert werden, entscheidend. Villiger betont: «Wir brauchen nicht nur viele Daten, sondern auch die richtigen.» Deshalb ist es für ihn zentral, den Prozess immer vom Ende her zu denken und genau die Parameter zu messen, mit denen die Algorithmen etwas anfangen können. Ausserdem müssen Villiger und sein Team viele Prozessbedingungen und Kombinationen ausprobieren, um die Messungen der Sensoren zu testen und genau einzustellen. Er vergleicht das mit einem Kochrezept: «Wir gehen in unseren Prozessen auch in die Extreme, wir probieren sozusagen alles von ‹kein Chili› bis ‹höllisch scharf›. Das ist im praktischen Einsatz nicht wünschenswert, weder im Prozess noch auf dem Teller. Aber durch diese Bandbreite der Messungen in der Testphase messen unsere Sensoren im Einsatz viel genauer.»

«Momentan dauert es etwa zehn Jahre, bis technische Innovationen in der Medikamentenproduktion ankommen. Ich möchte dabei helfen, dass das schneller geht.»
Thomas Villiger, Dozent für Bioprozesstechnik an der Hochschule für Life Sciences FHNW

Mit den Daten, die Villiger und sein Team so erzeugen, wird im nächsten Schritt ein Algorithmus trainiert. Denn auch hier sind die Datenmengen zu gross, als dass ein Mensch sie durchackern könnte. Das Computersystem lernt dadurch, den Prozess in Echtzeit zu überwachen und direkt zu steuern, um zu jedem Zeitpunkt optimale Bedingungen im Bioreaktor einzustellen. Dank des intelligenten Algorithmus können Prozesse, in denen Medikamente hergestellt werden, jetzt in Rekordzeit entwickelt werden: Das System braucht nur noch etwa zwei Tage, um die optimalen Bedingungen für die Medikamentenherstellung zu finden, statt wie vorher ein halbes Jahr.

Von der Theorie in die Praxis

Damit solche Verbesserungen auch tatsächlich in der Praxis ankommen, arbeitet Villiger eng mit verschiedenen pharmazeutischen Unternehmen aus der Schweiz, Europa und den USA zusammen. So kann seine Forschungsgruppe eine grosse Bandbreite von Prozessen bearbeiten, was die Algorithmen noch vielseitiger und wirkungsvoller macht. Villiger zufolge seien Produktionskosten für Biologika nicht immer der ausschlaggebende Punkt für die schlussendlichen Medikamentenpreise. Die hohen Margen würden gebraucht, um die weitere Forschung voranzutreiben. Allerdings sind in den letzten Jahren einige Patente ausgelaufen, was den Weg für Biosimilars geebnet hat. Biosimilars sind Nachahmerpräparate von Biopharmazeutika, welche die gleichen Qualitätsmerkmale haben müssen wie das Originalpräparat. Dank dieser Entwicklung blickt der Forscher hoffnungsvoll in die Zukunft: «Die Produktionskosten für Biologika sind in den letzten zehn Jahren schon stark gesunken, weshalb diese Medikamente jetzt auch der breiten Bevölkerung zur Verfügung stehen. Aber da ist immer noch viel Spielraum – vor allem wenn wir das volle Potenzial von neuen Technologien und der Digitalisierung ausschöpfen.»

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