Stefan Czarnecki von der Hochschule für Technik FHNW leitet das Projekt Integral. Foto: FHNW
9. Juni 2022

«Die Eigenmotivation muss ausserordentlich hoch sein»

Wer auf der Flucht ist, gibt oft berufliche Träume oder akademische Karrieren auf. Mit dem Projekt Integral der Hochschule für Technik FHNW bekommen qualifizierte Geflüchtete eine neue Chance, ihren Bildungsweg weiterzuverfolgen. Das hilft auch der Schweiz, wie Projektleiter Stefan Czarnecki im Interview erklärt.

Şevin Batu gehört zu den ersten fünf Studierenden des Projekts Integral. Die 34-jährige Kurdin ist aus der Türkei geflohen und kam vor vier Jahren in die Schweiz. Mit der Möglichkeit, einen Bachelor-Abschluss in Energie und Umwelttechnik zu machen, geht für sie ein lang ersehnter Traum in Erfüllung:

«Ich wollte schon immer ein technisches Studium machen, was mir aber in Kurdistan nicht möglich war. Ich wollte keinen gewöhnlichen Beruf, denn ich wollte sowohl den Menschen als auch der Zukunft der Welt helfen. Ich wusste, dass es schwierig wird. Als ich erfuhr, dass ich Umweltingenieurin werden könnte, entschied ich mich zu studieren.»
Herr Czarnecki, Şevin Batu kann dank dem Projekt Integral an der Hochschule für Technik FHNW studieren, vorher wäre das kaum möglich gewesen. Warum?

Bis zum Projekt Integral gab es für qualifizierte Geflüchtete nur einen Weg an die Hochschule: Die Geflüchteten mussten von sich aus die formalen Voraussetzungen für ein Studium in der Schweiz erfüllen. Das bedeutet eine mindestens 3-jährige anerkannte Ausbildung auf Sekundarstufe II, also beispielsweise eine gymnasiale Matur oder eine Berufsmaturität.

Was hat sich mit dem Projekt Integral für Geflüchtete geändert?

Sie bekommen eine Chance, ihre Situation aktiv zu verbessern und so ihr volles Potenzial zu entwickeln. Der Kern des Projekts ist das Hinführungsstudium. Damit können qualifizierte Geflüchtete die noch ausstehenden Kenntnisse erwerben, um anschliessend ein reguläres Studium an der Hochschule für Technik FHNW zu absolvieren.

Wie funktioniert dieses Hinführungsstudium?

Die Teilnehmenden besuchen bei uns und unseren Bildungspartnern Kurse, die sie auf ein Studium vorbereiten, beispielsweise in Mathematik, Physik und Deutsch. Diese Kurse gehören zu einem regulären Berufsmaturitätslehrgang. Zudem können die Geflüchteten im Projekt Integral bereits als Gasthörende an einzelnen spezifischen Studienmodulen teilnehmen. Sie erhalten auch ein Coaching und fachliche Unterstützung, zum Beispiel, wenn sie ein Praktikum suchen.

Şevin Batu macht im Rahmen des Projekts Integral ein Praktikum bei dem Verein Root & Branch. Für dessen Geschäftsführer Markus Schneider ist das Projekt ein Schritt in die richtige Richtung:

«Absolventinnen und Absolventen von Fachhochschulen haben aus meiner Erfahrung gute bis sehr gute Einstiegschancen in den Arbeitsmarkt der Schweiz. Diese Perspektive muss auch hoch qualifizierten Geflüchteten zustehen, damit wir den Fachkräftemangel in diversen Branchen angehen können. Das Projekt Integral nimmt sich daher gleich mehreren Problemen an.»
Welche wichtigste Eigenschaft müssen die Geflüchteten mitbringen, um hier zu studieren?

Die Eigenmotivation muss ausserordentlich hoch sein. Denn die Geflüchteten müssen trotz ihres früheren Studiums oder ihrer Vorbildung wieder mit einem neuen Studium anfangen. Und das in einer für sie fremden Sprache, da der Unterricht auf Deutsch stattfindet. Wir haben beispielsweise einen Teilnehmer, der in seinem Heimatland Mathematik unterrichtet hat und jetzt mit Ende 30 wieder seinen Maturitätsabschluss machen und ein Hinführungsstudium absolvieren muss.

Wie geht es für die Studierenden nach dem Hinführungsstudium weiter?

Das Ziel ist, dass sie ihr gewähltes Studium an unserer Hochschule regulär aufnehmen können. Wir entwickeln auch gerade ein Mentoring-Programm, um einen Austausch mit Studierenden aus höheren Semestern zu ermöglichen.

Portrait von Sofiia Mykytyn
Die geflüchtete Ukrainerin Sofiia Mykytyn studiert jetzt an der Hochschule für Technik FHNW. Foto: Sofiia Mykytyn
Mit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs rückt der Hochschulzugang für Geflüchtete stärker in den Fokus der breiten Öffentlichkeit. Welche Entwicklungen sehen Sie da?

Für uns ist es wichtig, dass die Geflüchteten unabhängig von ihrer Herkunft gleichbehandelt werden. Im Moment haben wir drei Studierende aus der Ukraine bei uns an der Hochschule für Technik FHNW, zwei davon mit Gasthörerstatus. Einer dritten, Sofiia Mykytyn, konnten wir direkt einen Studienplatz im Bereich Informatik ermöglichen, da sie die Voraussetzungen dafür erfüllt hat.

«Meine Familie und ich sind froh, dass ich mein anspruchsvolles Studium in Sicherheit weiterführen kann. Das Studium an der FHNW ist für mich auch eine Chance, neue Erfahrungen zu sammeln und weiter gut ausgebildet zu werden. Ich möchte nach meinem Bachelor-Abschluss ein Master-Studium eventuell in einem internationalen Umfeld machen.» (Sofiia Mykytyn)
Wie wird das Projekt Integral finanziert?

Das Projekt Integral ist Bestandteil des überregionalen Projekts INVOST, welches von der Hochschule für Technik FHNW und der Fachhochschule Westschweiz HES-SO getragen wird. INVOST wird zudem von den Stiftungen Volkart und Mercator Schweiz gefördert. Zudem wird das Projekt dank Spenden der Stiftung FHNW unterstützt.

Wie geht es mit dem Projekt Integral weiter?

Im Herbstsemester können fünfzehn qualifizierte Geflüchtete ihr Hinführungsstudium aufnehmen. Das ist für die Geflüchteten ein grosser Schritt zur Normalität. Und wir als Fachhochschule leisten aktiv einen Beitrag zur Bekämpfung des Fachkräftemangels in MINT-Berufen.

Gemeinsam für Integration

Das Projekt INVOSTIntegrationsvorstudium an Fachhochschulen soll helfen, dass sich hoch qualifizierte geflüchtete Menschen mit gezielten Fördermassnahmen auf ein reguläres Studium an einer Fachhochschule vorbereiten können. Mit der Hochschule für Technik FHNW und der Fachhochschule Westschweiz HES-SO setzen sich zwei überregionale Fachhochschulen proaktiv für mehr Chancengerechtigkeit beim Zugang zu Hochschulbildung ein.

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