Das FHNW-Forschungsprojekt «Lasercoustics» macht die Raumakustik des Grossen Saals der Musik-Akademie Basel virtuell erlebbar.
24. November 2020

Konzert ohne Saal: wie die Raumakustik in den Kopfhörer gelangt

Einmal über die Erde schweben, tief in die Weltmeere abtauchen oder Paläste längst vergangener Zivilisationen erkunden. VR-Brillen ermöglichen bereits heute virtuelle Rundgänge in atemberaubenden Welten. Was dabei meistens fehlt, ist die Akustik. Doch für Opernhäuser oder Konzertsäle ist sie entscheidend. Deshalb arbeiten Forschende mehrerer Hochschulen der FHNW daran, die einzigartige Klangentwicklung von Musiksälen für die virtuelle Realität einzufangen.

Die Akustik des 1905 gebauten Grossen Saals der Musik-Akademie Basel ist durch die vielen Nischen, Leisten und Fenster besonders komplex. Dank dem Forschungsprojekt «Lasercoustics» der FHNW wird sie jetzt virtuell erlebbar. Thomas Resch und Clemens Fiechter von der Hochschule für Musik FHNW und Wissam Wahbeh von der Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik FHNW haben dafür einen effizienten Simulationsprozess entwickelt, indem sie ein 3D-Modell des Grossen Saals erstellt und für die virtuelle Realität (VR) aufbereitet haben. Mit diesem untersuchen sie nun, wie die Akustik des Raums für Hörerinnen und Hörer so erfahrbar gemacht werden kann, als sässen sie im Saal und die Musizierenden vor ihnen auf der Bühne.

Der 1905 erbaute Grosse Saal der Musik-Akademie Basel. (Foto: Martin Chiang)

Raumerlebnis aus dem Kopfhörer

«Mit handelsüblichen Kopfhörern höre ich Musik nur in zwei Dimensionen», erklärt Resch. «Wenn ich live einem Konzert lausche, treffen die Klänge direkt und über Reflexionen in verschiedenen Winkeln auf meine Ohrmuscheln.» Beim linken Ohr kommt der Ton zudem leicht anders an als beim rechten. Aus diesen Informationen berechnet das Gehirn eine räumliche Wahrnehmung.

«Schlussendlich klingt es wirklich so, als sässe man im Konzertsaal.»
Thomas Resch, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Musik FHNW

Für Musik aus dem Kopfhörer kann man die Richtungs-Wahrnehmung künstlich erzeugen. Dazu nimmt man die Audiosignale möglichst ohne Nachhall auf und fügt dann die winkelabhängige Klangveränderung, die durch Ohrmuscheln, Gehörgang und die Abschattung durch Kopf und Körper entsteht, zur Aufnahme hinzu. Zusätzlich muss das Signal um den Nachhall des Konzertsaals ergänzt werden. Das ist möglich mit sogenannten binauralen Raum-Impuls-Antworten. Man kann diese mit Mikrofonen in den Ohren eines Kunstkopfs direkt messen. Oder man kann sie simulieren – sofern eine Simulation des Saals existiert.

Der virtuelle Saal

Um den Grossen Saal der Musik-Akademie möglichst realitätsnah auf dem Computer darstellen zu können, arbeiteten die Forschenden des Instituts Digitales Bauen und des Instituts Geomatik mit hochauflösender Laserabtastung. «Dafür haben wir im Saal einen Laserscanner platziert, der nur so gross ist wie ein Schuhkarton», erzählt Wahbeh. «Mit seinen Laserstrahlen hat er den Aufbau des Raums mit all seinen Strukturen und Unebenheiten genaustens abgetastet.» So erfasste der Laserscanner jede Ecke und jeden Punkt und erzeugte eine «Punktwolke». Diese enthält Millionen von 3D-Punkten, die entsprechend der Farbe des gescannten Materials eingefärbt sind. Am Computer werden sie dann in Flächen umgewandelt, um den gewünschten digital zugänglichen VR-Raum zu erstellen. «Da wir wissen, welche Materialien beim Bau des Grossen Saals zum Einsatz kamen, konnten wir in unserem Computermodell auch definieren, welche Oberfläche woraus besteht», ergänzt der Architekt. Solche Details waren wichtig, weil etwa Holz den Klang einer Violine ganz anders zurückwirft als Granit.

Mit Hilfe von sogenannten «Rays» lässt sich die Ausbreitung des Schalls im Raum simulieren.

Wenn der Ton dem Kopf folgt

Im virtuellen Saal können die Forschenden nun beliebig viele Impulsantworten berechnen. «Wenn wir mit dem Kunstkopf nur eine bestimmte Kopfposition ausmessen würden, hätte man bei jeder Kopfbewegung unter der VR-Simulation das Gefühl, als ob sich die Bühne mitbewegt», erläutert Resch.

Damit aber die Musik im virtuellen Raum gleich wahrgenommen werden kann wie in der Realität, müssen die Impulsantworten für jede Position der Musiker auf der Bühne, der vorhandenen Sitzplätze und jede mögliche Kopfstellung bekannt sein. Erst dann kann sich der Klang der Musik der Position der Zuhörerin oder des Zuhörers anpassen, weil VR-Brillen die Kopfposition anhand von Sensoren erkennen. Nur so können die Zuhörenden tatsächlich durch den virtuellen Musiksaal spazieren, während die Bühne für ihr Gehör am selben Ort bleibt. Indem die Forschenden der Musikhochschule all die benötigten Impulsantworten im Modell ihrer Kolleginnen und Kollegen simulierten, statt sie real zu messen, beschleunigten sie den aufwendigen Prozess enorm. «Wenn wir die Simulationen dann noch mit ein paar tatsächlichen Messungen abgleichen, klingt es schlussendlich wirklich so, als sässe man im Konzertsaal», freut sich Resch.

Mozart wie damals

Die Erkenntnisse aus dem Projekt könnten bald in den unterschiedlichsten Bereichen eingesetzt werden. «Zum Beispiel um Räume auszumessen und ihre Akustik für Musikproduktionen oder Live-Streaming von Konzerten in 3D zu verwenden», schwärmt Resch. Musik aus dem Studio, die klingt, als würde sie in einem Opernhaus gespielt. Das Verfahren eignet sich auch für das Austesten neuer Konzerthallen, bevor diese überhaupt gebaut worden sind. «Wenn ein künftiger Raum erst in VR aufgebaut und die Akustik mit dieser Technik simuliert wird, können Entwurfsfehler schon vor dem ersten Spatenstich erkannt und vermieden werden», sagt Wahbeh. «Dadurch ist es auch möglich, den architektonischen Gesamtentwurf durch die Kombination verschiedener Aspekte zu optimieren. Zum Beispiel die Optimierung der Geometrie des Musiksaals, um die Sicht und Akustik für das Publikum gemeinsam zu verbessern.»

«Wenn die Akustik eines geplanten Raums erst in VR simuliert wird, können Entwurfsfehler früh erkannt werden.»
Dr. Wissam Wahbeh, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Digitales Bauen der Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik FHNW

Die Forschenden sehen noch ein weiteres Anwendungsgebiet mit grosser Zukunft: Alte, längst zerstörte Gebäude liessen sich virtuell nachbauen. So könnte beispielsweise das alte Basler Stadtcasino dank Fotos oder Bauplänen von früher wieder zum Leben erweckt werden. «Unter der VR-Brille würde man dann einen Konzertbesuch wie früher erleben», sagt Resch. Auch historische Stätten wie antike Amphitheater oder ein Mozart-Konzert im Wien des 18. Jahrhunderts wären damit für virtuelle Konzerte denkbar. Davon profitieren nicht nur Musikbegeisterte, sondern auch Forschende, die zum Beispiel die Akustik des Forum Romanum besser verstehen möchten.

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