Wettbewerb für neue Ideen
In der Forschung gibt es manchmal Herausforderungen, bei denen selbst die klügsten Köpfe nicht weiterkommen. Dann braucht es einen frischen Blick und eine neue Perspektive.
Dezember 2022, es ist das dritte Adventswochenende. Am Campus der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW in Muttenz herrscht geschäftiges Treiben. Die Leute, die sich hier zusammengefunden haben, vereint ihre Freude an Wissenschaft. Sie wollen an diesem Wochenende Probleme lösen, an denen Expertinnen und Experten schon jahrelang vergebens tüfteln.
Eine solche Veranstaltung nennt man Hackathon, sozusagen ein «Hack-Marathon». Hier kommen Menschen zusammen, die sich dafür begeistern, knifflige Probleme von Forschungsgruppen und Industrieunternehmen anzugehen und neue Lösungsansätze zu suchen. Enkelejda Miho, Wissenschaftlerin für Medizin-Informatik an der Hochschule für Life Sciences FHNW und Leiterin des Labors für künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen, kennt solche Rätsel von ihrer eigenen Arbeit: «In meiner Forschung über die individuelle Immunität gibt es eine wichtige Fragestellung, über die ich jeden Morgen nachdenke – seit nunmehr vier Jahren.» Ein frischer Blick von aussen kann helfen, so eine festgefahrene Situation aufzubrechen und neue Lösungswege aufzuzeigen. Deshalb kam Miho auf die Idee mit dem Hackathon. Und nach einem Gespräch mit Clément Javerzac, der an der FHNW an Quantencomputern forscht, wurde aus der Idee ein konkreter Plan: «#HackLife<3», der erste Quanten-Hackathon beider Basel.
Zwei Tage voller Kreativität
Beim Hackathon «#HackLife<3» versammelten sich Forschende und Studierende der FHNW und von anderen Hochschulen und elf Mentorinnen und Mentoren aus den sieben teilnehmenden Unternehmen der Life-Sciences-Industrie am Campus in Muttenz. Die Unternehmen reichten in ihrer Grösse von kleinen Start-ups mit wenigen Mitarbeitenden über mittelgrosse Firmen bis hin zu grossen Konzernen wie Novartis. Sieben Themen, sogenannte «Herausforderungen», aus verschiedenen Bereichen der Lebenswissenschaften, der künstlichen Intelligenz und Quanteninformatik standen zur Auswahl. Alle entstammten dem Arbeitsalltag der Unternehmen und damit der «echten Welt». Die Teilnehmenden hatten dann zwei Tage Zeit, in Gruppen von zwei bis drei Personen die Herausforderung anzunehmen und neue Lösungswege zu suchen. Zum Schluss stellten sie ihre Ergebnisse vor und das Organisationskomitee kürte das Siegerteam.
Es waren intensive zwei Tage: Von morgens bis spätabends wurde diskutiert und gemeinsam an einem möglichen Lösungsansatz gearbeitet. Wie lässt sich beispielsweise die Immunantwort einer Patientin aus einer Blutprobe mit Immunzellen vorhersagen, fragten sich Miho und ihr Start-up aiNET. Im Hackathon fanden zwei Studierende einen originellen Weg: Sie schlugen vor, einfach zu zählen, wie viele Immunzellen bei verschiedenen Personen gleich sind. Das überzeugte Miho anfangs gar nicht: «Mit all meinem Vorwissen hätte ich das nie versucht. Doch wenn man diese Lösung ein bisschen anpasst, bringt sie uns einen grossen Schritt weiter.» Auch die Firma IBM, Vorreiterin im Bereich Quanteninformatik, war am Hackathon vertreten. Sie bot den Teilnehmenden ein Projekt an, bei dem sie als «Quanten-Tourist:innen» in die Welt der Quantencomputer eintauchen können. «Mehr dürfen wir davon nicht verraten», sagt der «#HackLife<3»-Mitgründer Javerzac, «nur so viel: Es war sehr spannend.»
Gewonnen hat aber ein anderes Team: Zusammen mit der Firma Straumann haben zwei Teilnehmer ein Computermodell entwickelt. Es ging darum, wie man Zähne mithilfe von Zahnschienen in die richtige Position rücken kann. Bei manchen Menschen bewirkt eine Zahnschiene überhaupt nichts, während sie bei anderen die Zähne viel zu weit oder in die falsche Richtung schiebt. Im Hackathon musste das Team «Jaws with Flaws», auf Deutsch etwa «Kiefer mit Mängeln» viel Zeit aufwenden, den zugrunde liegenden Datensatz bereinigen und nutzbar machen. Am Ende konnte das Team aber ein innovatives Computermodell entwickeln, mit dem sich verlässlich vorhersagen lässt, wie weit sich die Zähne durch die Schiene verschieben werden. Das brachte den «Jaws with Flaws» den Siegerpreis ein.
Doch den meisten Teilnehmenden geht es nicht um den Gewinn. Es zählt, dabei zu sein und etwas Neues zu lernen. Javerzac erklärt: «Wenn der Hackathon losgeht, haben viele das Gefühl: Alle Themen klingen sehr spannend, aber ich kann kein einziges der Probleme lösen – sie sind einfach entmutigend gross und kompliziert.» Doch dann fangen die Teams an und lösen erst ein kleines Teilproblem und dann das nächste. So bekommen sie immer mehr Selbstvertrauen. Javerzac erinnert sich: «Die Lernkurve der Teilnehmenden ist beeindruckend, und es ist unglaublich schön, die Freude in ihren Gesichtern zu sehen, sobald sie ein Problem geknackt haben.»
Denkanstösse für später
Für Miho und Javerzac ist es ein besonderer Erfolg, wenn der Hackathon einen bleibenden Eindruck hinterlässt und den weiteren Werdegang der Teilnehmenden auch praktisch beeinflusst. So möchte ein Chemiestudent der FHNW, der Teil der Quantencomputer-Gruppe war, nun seine Masterarbeit zu diesem Thema machen. Auch die anderen Teilnehmenden hat «#HackLife<3» sehr begeistert. Ein Grund dafür ist die spezielle Atmosphäre der Veranstaltung. Javerzac kommt ins Schwärmen: «Ein Hackathon ist wie ein Kokon, in dem es sich richtig anfühlt, ein Nerd zu sein – und es gibt gutes Essen und sehr viel Schokolade!» Deshalb wollen Miho und Javerzac von nun an jedes Jahr einen Hackathon organisieren. Der nächste Termin steht schon fest: Im November 2023 sollen wieder junge Menschen mit Leidenschaft für Lebenswissenschaften und Informatik für ein Wochenende an der FHNW zusammenkommen, um gemeinsam Probleme anzugehen, die Expert:innen schon jahrelang beschäftigen.