Portrait von Thomas Geissen
Thomas Geisen, Dozent am Institut für Integration und Partizipation der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Bild: Wolf Fotografie
18. Juni 2024

Zwischen zwei Welten

Mit der Alterung der Gesellschaft steigt auch der Bedarf an Pflege und Betreuung durch Angehörige. Viele Arbeitnehmende stehen vor der Herausforderung, ihre beruflichen Pflichten mit der Pflege und Betreuung von geliebten Personen zu vereinbaren. Darauf muss auch die Arbeitswelt reagieren. Ein Team der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW unter der Leitung von Thomas Geisen und Sibylle Nideröst hat in über 400 Schweizer Betrieben eine Bestandsaufnahme gemacht – mit teils ernüchterndem Ergebnis.

Herr Geisen, Angehörigenpflege und Erwerbstätigkeit – warum ist das ein Thema für Sie?

Thomas Geisen: Wir untersuchen in unserer Forschung seit vielen Jahren das Thema Arbeit und Gesundheit. Hier haben wir uns auch auf alternde Belegschaften konzentriert, also die Arbeitnehmenden im mittleren Alter. Wir wollten wissen: Wie werden Beschäftigte von ihren Betrieben unterstützt? Bei einigen unserer Interviews erfuhren wir, dass manche Arbeitnehmende zusätzlich zu ihrer Erwerbstätigkeit noch Angehörige aus dem engeren Familienkreis pflegen und somit eine Doppelbelastung haben. Das hat uns neugierig gemacht, weshalb wir uns zunächst einmal mit dem Forschungsstand zum Thema vertraut gemacht und intensiv in der Fachliteratur recherchiert haben.

Was haben Sie herausgefunden?

Der Kenntnisstand zur Vereinbarkeit von Beruf und Angehörigenbetreuung ist sehr rudimentär, vor allem ist wenig bekannt darüber, wie in Betrieben mit der Thematik umgegangen wird. Deshalb haben wir gemeinsam mit einem österreichischen Forschungspartner eine Studie gestartet. Wir haben unter anderem Expert*innen interviewt und herausgefunden, dass es für Fälle von pflegebedürftigen Angehörigen kaum Personalstrategien gibt. Das war für uns in der Schweiz der Ausgangspunkt für unsere Betriebsfallstudien in neun Betrieben.

«Die Vereinbarkeit von Beruf und Angehörigenbetreuung wird bei vielen Betrieben kaum thematisiert. Das ist eine verpasste Chance.»
Thomas Geisen, Professor am Institut Integration und Partizipation der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
Was heisst das konkret?

In diesen neun Betrieben haben wir alle Mitarbeitenden inklusive Personalverantwortliche und die Betriebsleitung befragt, zahlreiche längere Einzelinterviews geführt und Fokusgruppen mit betroffenen Arbeitnehmenden und deren Kolleg*innen gebildet. Hierbei sind sehr umfassende Informationen zusammengekommen, die uns als Grundlage für eine schweizweite Umfrage diente, an der 443 Betriebe teilgenommen haben.

Gesundheit am Limit

Gibt es Vorschriften für Arbeitnehmende, die ihre Angehörigen betreuen?

Aus betrieblicher Sicht ist diese Frage erst seit 2021 in der Schweiz geregelt. Seither ist die Betreuung von älteren Angehörigen der Kinderbetreuung gleichgestellt. So können die erwerbstätigen Angehörigen zehn Tage pro Jahr bezahlt freinehmen, jedoch maximal drei Tage pro Krankheitsfall der betreuten Person. Danach soll die Erwerbstätigkeit wieder im üblichen Umfang aufgenommen oder geeignete Anpassungen am Arbeitsverhältnis vorgenommen werden.

Die Doppelbelastung hält jedoch weiter an.

Richtig, oft kommt es zu gesundheitlichen Problemen, wodurch die Vereinbarkeit von Arbeit und privater Betreuung immer schwieriger wird. Betroffene sind vielfach gestresst und belastet. Sie machen sich oftmals Sorgen, dass zu Hause etwas passieren könnte, während sie bei der Arbeit sind.

Eine ältere Person sitzt im Rollstuhl auf einem Weg in der Natur und wird von einer Frau betreut.
Mit der Alterung der Gesellschaft stehen immer mehr Arbeitnehmende vor der Herausforderung, ihren Beruf und die Betreuung von Angehörigen zu vereinbaren. Bild: AdobeStock/Peter Maszlen
Unterstützen nicht Pflegedienste in so einer Situation?

Hier muss man zwischen Pflege und Betreuung unterscheiden. Die Pflege umfasst medizinisch notwendige Aufgaben, etwa das Betten und Lagern, die Durchführung von Bewegungsübungen und die Dekubitusprophylaxe, die Hilfe bei der Mund- und Körperpflege, oder eine Wundversorgung, das wird in der Schweiz über die Krankenversicherung und Fachdienste abgedeckt. Die Betreuung wird demgegenüber vor allem von Angehörigen geleistet, viele von ihnen sind auch erwerbstätig. Mit Betreuung ist die Sozialunterstützung im Haushalt und bei alltäglichen Dingen gemeint, zum Beispiel Wäschewaschen, Einkäufe oder Spaziergänge. Interessanterweise ist das ein anderer Ansatz als in Österreich: Dort werden Betreuungspersonen aus der Familie im Rahmen eines Pflegegeldes über die gesetzliche Pflegeversicherung unterstützt, damit sie Pflege leisten können.

Demografische Herausforderungen

Wie viele Arbeitnehmende in der Schweiz pflegen Angehörige?

Gemäss den Ergebnissen unserer Umfrage pflegen derzeit 24 Prozent der Mitarbeitenden Angehörige, bisher lag diese Zahl deutlich unter 20 Prozent. Dieses Ergebnis spiegelt die alternde Bevölkerung und den wachsenden Pflegebedarf wider, der in den nächsten 30 Jahren aufgrund der demografischen Entwicklung weiter steigen wird. Hinzu kommt, dass viele erwerbstätige Personen gleichzeitig Kinderbetreuung und Angehörigenpflege leisten müssen. Während die Kinderbetreuung inzwischen relativ gut abgedeckt ist, ist die temporäre Unterbringung älterer Angehöriger deutlich schwieriger.

Wie ist das Bewusstsein dafür in den Betrieben?

Die Vereinbarkeit von Beruf und Angehörigenbetreuung wird bei vielen Betrieben kaum thematisiert. Das ist eine verpasste Chance. Denn die Pflege und Betreuung von Angehörigen wird überwiegend von Personen im Alter zwischen 45 und 60 Jahren geleistet – auf dem Höhepunkt ihrer beruflichen Karriere, wenn sie über einen immensen Erfahrungsschatz verfügen. Wenn Personalabteilungen diese Menschen dann nicht unterstützen und ihnen Lösungen im Unternehmen anbieten, verlieren sie möglicherweise wertvolle Arbeitskräfte. Im schlimmsten Fall verlassen diese Personen den Arbeitsmarkt ganz, weil ihnen die Pflege ihrer Angehörigen sehr wichtig ist.

«Erwerbsarbeit ist eine ganz wichtige Ressource für betreuende oder pflegende Angehörige.»
Thomas Geisen

Auftanken am Arbeitsplatz

Brauchen die pflegenden Angehörigen nicht eher eine Auszeit von der Erwerbsarbeit?

Unsere Daten zeigen, dass gerade die Erwerbsarbeit für die betreuenden und pflegenden Angehörigen eine ganz wichtige soziale Ressource darstellt. Die Erwerbsarbeit bietet soziale Kontakte und ein anderes Umfeld. Man ist nicht immer nur zu Hause, in der Betreuungssituation, sondern geht zur Arbeit und beschäftigt sich mit anderen Themen und Aufgaben. Das kann ein Ausgleich sein.

Wie können Betriebe ihren Arbeitnehmenden in so einer Situation am besten helfen?

Flexible Arbeitszeitregelungen, Teilzeitoptionen, Arbeitsplatzanpassungen können helfen. Vorgesetzte sollten offen, transparent, sensibel und unterstützend reagieren.
Angehörige, die informelle Pflege und Betreuung leisten, sind froh darüber. Diese Unterstützung schafft eine besondere Bindung zum Unternehmen. So bleiben die Mitarbeitenden motiviert, haben Vertrauen und setzen sich weiterhin gerne für den Betrieb ein – auch wenn die Pflege- und Betreuungszeit dann zu Ende ist.

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