Bereit für den digitalen Wandel
Die Digitalisierung ist eine Herausforderung für viele traditionelle Geschäftsmodelle. Um den Sprung ins neue, schnelle Zeitalter zu schaffen, erhalten Firmen Unterstützung vom Institut für Wirtschaftsinformatik der FHNW.
Keine Firma, kein Geschäftsfeld bleibt von der Digitalisierung unberührt. Einige Branchen werden regelrecht davon überrollt und verlieren Teile ihrer Kundschaft über Nacht – etwa das Hotelgewerbe, welches arg unter der privaten Ferienzimmer-Plattform «Airbnb» leidet, mit der sich Übernachtungen in privaten Wohnungen und Häusern günstig über das Internet buchen lassen. Oder die Taxibranche, deren bisherige Fahrgäste immer häufiger den günstigeren und oft schnelleren Online-Mitfahrdienst «Uber» wählen.
Ähnlich wird es wohl noch vielen weiteren Firmen gehen: Jederzeit und überall auf der Welt kann neue Konkurrenz auftauchen, die mit einer digitalen Plattform oder Technologie bestehende Geschäftsfelder komplett umkrempelt. «Das wird immer häufiger und immer schneller geschehen», bestätigt Dino Schwaferts, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Hochschule für Wirtschaft FHNW. Damit Firmen der Digitalisierung nicht hilflos ausgeliefert sind, begleitet und berät er sie mit seinem Team bei der Anpassung an das veränderte Umfeld.
Die Zukunft rechtzeitig erkennen
Mit seinen Beratungen will Schwaferts den Firmen nicht einfach Empfehlungen für neue Produkte geben: «Das würde langfristig nichts bringen – schon in wenigen Jahren stünden die Firmen wieder am selben Punkt und wüssten nicht wie weiter», sagt der Ökonom. Vielmehr sollen sich die Unternehmen so verändern, dass sie Trends, Risiken und Chancen für neue Geschäftsfelder in Zukunft selbst erkennen können. Schwaferts spricht von «digitaler Reife».
Doch die Firmen dorthin zu bringen, sei gar nicht so einfach, denn sie müssten ihre Stärken und Schwächen bis hinauf in die Führungsetage umfassend reflektieren. «Oft denken Managerinnen und Manager, es geht bei der digitalen Reife bloss darum, wie fit ihre IT-Leute sind», erläutert Schwaferts. Das sei jedoch ein Irrtum. Um wirklich herauszufinden, wie sich eine Firma in der digitalen Welt erfolgreich neu positionieren kann, braucht es auch mehr als standardisierte Checklisten: «Manchmal ist sogar eine Veränderung der Firmenkultur notwendig», sagt Schwaferts.
Die vier Säulen der digitalen Reife
Die FHNW hat ein Modell entwickelt, welches die digitale Reife einer Firma in vier zusammenhängenden Bereichen untersucht – das «Digital Maturity Assessment»:
1. Was wollen die Kundinnen und Kunden von morgen?
In die Zukunft zu blicken, ist nicht einfach. Trotzdem muss sich jede Firma fragen: Was werden potenzielle Kundinnen und Kunden brauchen, wie werden sich ihre Bedürfnisse entwickeln? Können wir in ein, zwei oder vier Jahren immer noch mit denselben Produkten und Dienstleistungen punkten wie heute?
2. Verarbeitet die Firma diese Erkenntnisse sinnvoll?
Bei diesem Punkt steht nicht die Strategie einer Firma, sondern ihre Organisationsstruktur auf dem Prüfstand. Damit die Erkenntnisse über die Kundenbedürfnisse möglichst direkt einfliessen in die Optimierung bestehender sowie in die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, braucht es eine gut funktionierende interne Zusammenarbeit. Denn die Mitarbeitenden wissen oft mehr über die Wünsche, Sorgen und Wertvorstellungen von Kundinnen und Kunden als die Führungsebene. Daher muss sich jede Firma fragen: Beziehen wir unsere Mitarbeitenden ausreichend in die strategische Ausrichtung ein?
3. Verfügt die Firma über alle notwendigen Kompetenzen für die Umsetzung?
Sind neue Geschäftsfelder identifiziert, muss sich die Firma der Realität stellen: Sind alle Kompetenzen verfügbar, damit wir in den neuen Bereichen auch erfolgreich werden können? Erst hier ist wichtig, dass die IT der Firma durchleuchtet wird. Haben die Angestellten die Kompetenzen wirklich, oder überschätzen sie sich möglicherweise? Viele digitale Geschäftsfelder erfordern Fähigkeiten, die es für das Tagesgeschäft der IT-Mitarbeitenden sonst nicht braucht. Etwa Wissen über Cloud-Potenziale oder Entwicklungen im Bereich des Internet der Dinge.
4. Erlaubt die Firmenkultur die Reifung überhaupt?
Dieser Punkt wird oft unterschätzt. Selbst wenn Mitarbeitende auf dem Papier die Möglichkeit haben, sich an der strategischen Ausrichtung einer Firma zu beteiligen, bedeutet das noch nicht, dass es die Firmenkultur auch zulässt. Trauen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überhaupt, etwas zu sagen? Und wird ihnen umgekehrt genug vertraut? Wenn den Angestellten beispielsweise der Zugang zu Social Media am Arbeitsplatz verwehrt wird, können sie auch nur schlecht einschätzen, wie die Firma von Aussenstehenden wahrgenommen wird. Und wenn die Firmenkultur informelle Treffen unterbindet, erschwert dies innovative Entwicklungen.
Praxiserfahrung für Studierende
Für die Beratungsgespräche bindet Schwaferts Studierende der Hochschule für Wirtschaft FHNW ein. «Für unsere Studentinnen und Studenten ist das eine tolle Chance», sagt er. Nachdem sie sich intensiv mit den Geschäftsfeldern der jeweiligen Firma auseinandergesetzt und sich gemeinsam mit Schwaferts auf die Gespräche vorbereitet haben, findet ein erstes Treffen im Unternehmen statt. Die Studierenden kündigen an, dass sie mit jemandem aus der Führungsebene, aus der Marketingabteilung und einer Vertreterin oder einem Vertreter der Human Resources sprechen möchten. In zwei bis drei Interviewtagen klären die Studentinnen und Studenten die digitale Reife der Firma in den vier oben genannten Bereichen ab. So finden sie heraus, was die Einzigartigkeit der Firma ausmacht; etwa Patente, Technologien, Know-how oder Produktionsanlagen. In Rücksprache mit Schwaferts arbeiten sie dann konkrete Handlungsempfehlungen aus. Hier sei wichtig, die bestehenden Geschäftsfelder der Firma nicht einfach über den Haufen zu werfen: «Was die Firma bisher gut macht, das soll sie auch weiterhin tun.» Daneben soll sie aber ihre Fühler möglichst rasch in die neue digitale Welt ausstrecken.
Schwaferts hat diese Beratung mittlerweile mit 25 Firmen durchgeführt. Am schwierigsten seien die Fälle, in denen ein Kulturwandel in den Köpfen der Mitarbeitenden nötig ist, sagt er. «Im Vergleich dazu ist eine strategische Neuausrichtung viel einfacher.» Das Assessment habe bisher jeder Firma geholfen, sich über die eigene Positionierung im digitalen Zeitalter bewusst zu werden, sagt Schwaferts: «Hoffnungslose Fälle gibt es eigentlich keine.»
Weitere Informationen zum Digital Maturity Assessment
«Ob man mitmacht oder nicht – die digitale Revolution findet statt.»
Gerold Beck ist Leiter Controlling beim Schweizer Elektrogrosshandelsunternehmen Winterhalter Fenner AG. Die Firma vertreibt elektrotechnische Komponenten, Installationsmaterial und Fotovoltaik-Anlagen. Vor gut einem Jahr durchlief die Firma ein Digital Maturity Assessment mit Dino Schwaferts von der FHNW.
Ja, wir sind schon seit Jahren erfolgreich im digitalen Bereich unterwegs.
Es war eine wertvolle Aussensicht und hat uns darin bestärkt, unseren digitalen Kurs weiterzuverfolgen. Es hat auch einiges verändert: Alles Digitale war bei uns in erster Linie in der IT-Abteilung parkiert. Damit wir uns wirklich gut auf neue Märkte ausrichten können, müssen aber alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Firma die Digitalisierung leben und weiterentwickeln. Heute, etwa ein Jahr nach dem Assessment, arbeitet bei uns eine Digital Project Managerin, die die Umsetzung und den weiteren Ausbau unserer digitalen Strategie verantwortet. Sie unterstützt alle Bereiche der Firma und hilft bei der Erschliessung neuer Geschäftsfelder.
Wir hatten schon vorher einige Projekte gestartet, die in diese Richtung gingen. Beispielsweise eine neue Funktion in unserem Online-Bestellsystem, mit dem unsere Kundinnen und Kunden jederzeit sehen, wo sich ihre Lieferung von Elektroprodukten gerade befindet. Und sogar ein Foto vom Ort auf der Baustelle erhalten, an der das Material deponiert wurde. Das Assessment hat uns bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und hat uns gezeigt, wo wir uns noch verbessern können.
Anfangs war es nicht ganz leicht, Ängste abzubauen. Auch unsere Kunden haben die Vorteile der neuen digitalen Produkte erst durch den unermüdlichen Einsatz unserer Kolleginnen und Kollegen im Verkauf wirklich zu schätzen gelernt. Diese haben immer wieder auf die Neuerungen hingewiesen und sie erklärt. Auch intern gab es teilweise Ängste, dass unsere App manchen Mitarbeitenden die Arbeit wegnehmen würde. Das stellte sich allerdings als unbegründet heraus: Im Telefondienst entwickelten sich die Gespräche seit der Einführung der digitalen Anwendung immer mehr zu Beratungsgesprächen und weg vom einfachen Erfassen von Bestellungen. Die Arbeit der Mitarbeitenden wurde also sogar spannender durch die Digitalisierung.
Wir interessieren uns weiterhin für verschiedene digitale Geschäftsfelder, beispielsweise 3-D-Druck oder das Internet der Dinge. Wir versuchen immer herauszufinden, wo und wie wir mit digitalen Produkten noch besser auf die Kundenwünsche eingehen und somit die Kundenbindung verbessern können.
Das ist schwer zu sagen. Wir versuchen sehr selbstkritisch zu bleiben und uns laufend zu verbessern. Damit wir unseren Vorsprung sichern und weiter ausbauen können, werden wir unsere Position regelmässig in einem Assessment überprüfen. Denn die digitale Revolution findet statt, ob man mitmacht oder nicht. Und wir haben uns entschlossen, daran teilzunehmen und sie aktiv mitzugestalten.