Aus den riesigen Hallen der Zentrale Pratteln sendeten die Diplomierenden einen zwei Tage dauernden Live-Stream, um ihre Projekte zum Thema «Kommit to Conflict» zu zeigen und mit dem Publikum zusammen zu testen. Foto: Matthias Böttger
18. Juni 2020

Ein Diplomfestival in Corona-Zeiten: Wie trotz physischer Distanz ein fruchtbarer Austausch entsteht

In den letzten Monaten machte das Coronavirus zwischenmenschliche Interaktionen schwierig – eine Herausforderung für die Diplomierenden in Prozessgestaltung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW, deren Arbeit auf dem Austausch mit der Öffentlichkeit gründet und ohne Interaktion unmöglich ist. Doch die Studierenden haben einen Weg gefunden, aus der Not eine Tugend zu machen: An ihrem diesjährigen Diplomfestival am 12. und 13. Juni verknüpften sie digitale Tools und physische Events zu einem animierenden Publikumsanlass.

Willkommen im «Distrikt 19». Wer eintritt, darf sich getrost von Althergebrachtem lösen. Denn hier geht es darum, zu verändern – Dinge, Sichtweisen, Prozesse, die Gesellschaft. Und um die Frage, wie sich gesellschaftliche Konflikte aufgreifen lassen, um Veränderungen anzustossen und Neues zu kreieren. Auf einem Rundgang durch die 20 Räume des Disktrikt-19-Hauses entdecken Besucher*innen neue Ansätze der Bachelor-Diplomierenden in Prozessgestaltung am Institut HyperWerk der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW. Unter dem Jahresthema «Kommit to Conflict» gibt es eine Velo-betriebene Waschmaschine in einer Studi-WG, eine solarbetriebene Küche, ein Zimmer, in dem queere und nicht-binäre Menschen von sich erzählen, und vieles mehr zu erkunden. Die Prozessgestalter*innen behandeln Themen wie Identität, Konsum, Klima, Ernährung, Wachstum, Migration oder Kommunikation.

Hereinspaziert – in den Räumen des virtuellen Distrikt-19-Hauses können Besucher*innen die Ideen der Prozessgestalter*innen erkunden und an den Projekten mitwirken. (Foto: distrikt19.hyperwerk.ch)

Interaktion in Corona-Zeiten

So real die Anliegen sind, ins «Distrikt 19» gelangt man nur virtuell. «Wegen der Corona-Einschränkungen mussten wir uns umorientieren und das Diplomfestival vom 12. bis 13. Juni in den digitalen Raum verlegen», sagt Matthias Böttger, Leiter des Instituts HyperWerk. Einfach war das nicht. Denn die Diplomarbeiten leben von Interaktion – zwischen den Studierenden selbst, die immer in Teams arbeiten, aber auch zwischen den Studierenden und der Öffentlichkeit. Darum fanden frühere Diplomfestivals nicht etwa isoliert in einem Hochschulgebäude statt, sondern draussen, letztes Jahr beispielsweise auf dem Basler Dreispitz-Areal. Und anders als bei den meisten anderen Studiengängen präsentieren die Diplomierenden hier nicht fertige Arbeiten, sondern den Prozess, in dem sie drinstecken. «Die Studierenden erproben gemeinsam mit dem Publikum ihre Ideen und erhalten so Inputs für das weitere Vorgehen», erklärt Laura Pregger, Dozentin am HyperWerk.

«Das Studium ist eine Chance, aber auch ein Wagnis.»
Matthias Böttger, Leiter des Instituts HyperWerk der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW.

Diese Interaktion mit dem Publikum sollte auch am virtuellen Diplomfestival «Distrikt 19» möglich sein. Eine Herausforderung waren dabei die sich verändernden Einschränkungen durch das Coronavirus: «Einerseits befanden wir uns selbst noch im virtuellen Arbeitsmodus der letzten Monate, andererseits waren ab Juni wieder physische Treffen möglich», erklärt Böttger. «Darum haben wir uns für eine Mischform entschieden, die das Physische mit dem Virtuellen zusammenführt.» So lief auf der Distrikt-19-Dachterrasse zwei Tage lang ein Live-Stream, der vorproduzierte Videos und von den Studierenden organisierte Live-Events und Interviews – zum Beispiel mit dem Guerillagärtner Maurice Maggi – zusammenführte. Dabei wurde das Publikum immer wieder miteinbezogen. Zum Beispiel bei der Produktion von nachhaltiger Pasta: Die Pastamaschine lief nur über Klicks der Zuschauer.

Eine Brücke zum Publikum

Auch in ihren Diplomprojekten mussten die Studierenden umdenken. Diplomand Sebastian Ramming beispielsweise entwirft Fitnessgeräte, welche die Energie, die durch das Training entsteht, nutzbar machen. Doch durch die Corona-Einschränkungen verlor er den Zugang zu den Werkstätten der HGK. Darum zeigte er seine Ideen statt physisch virtuell und konzentrierte sich mehr auf die Möglichkeiten, solche Geräte im Alltag einzusetzen. Diplomandin Isabell Olson malte ihren entlarvenden Entscheidungsbaum zu nachhaltigem Essverhalten breit auf einem Fussweg auf, sodass die Passanten kaum darum herumkamen, sich mit ihrem eigenen Essverhalten auseinanderzusetzen – eine Aktion, die auch während der Corona-Zeit möglich war. Die Reaktionen dokumentierte sie in einem Video, das sie in ihrem digitalen Raum im Distrikt 19 zeigt.

Wie nachhaltig essen wir und warum? Ihren Entscheidungsbaum hat Diplomandin Isabell Olsson (links im Bild) auf einem Fussweg aufgemalt und Passanten so animiert, sich mit ihrem Essverhalten auseinanderzusetzen.

Diese Verbindung von virtuellen und physischen Events hat gut geklappt: «Am Anfang hat beim Live-Stream technisch noch nicht ganz alles funktioniert, aber das haben wir rasch gelöst», sagt Matthias Böttger. «Ich denke, wir haben das Beste aus den Corona-Einschränkungen gemacht.» Wichtig war den Prozessgestalter*innen, dass sie zwar die digitalen Möglichkeiten ausreizten, dabei aber die menschliche Interaktion das zentrale Element blieb.

Nachhaltiges Projekt: Die «Radschaft» holt in Basler Quartieren mit dem Fahrrad Bioabfall von Privathaushalten ab und beliefert diese gleichzeitig mit Esswaren von lokalen Produzenten. Die Idee entwickelte das Radschaft-Team im Studium Prozessgestaltung an der FHNW. (Bild: https://radschaft.ch/)

Ungewöhnliche Freiheit

Ohnehin ist das Studium Prozessgestaltung ein besonderes, weil hier nicht Ergebnisse im Vordergrund stehen und weil die Studierenden sehr viele Freiheiten geniessen (siehe Box). Sie wählen die Inhalte, mit denen sie sich beschäftigen möchten, selbst aus und arbeiten die meiste Zeit an ihren Projekten. «Das Studium ist eine grosse Chance, aber auch ein Wagnis», glaubt Böttger. Nicht nur, weil die Studierenden vieles darin selbst gestalten, sondern auch, weil es den Beruf «Prozessgestalter*in» noch gar nicht gibt. «Unsere Abgänger*innen werden kein Jobinserat finden, das nach ihnen sucht», sagt Böttger, «dafür haben sie die Freiheit, während des Studiums ihren zukünftigen Beruf zu erfinden.» Auch Diplomand Sebastian Ramming sieht sein Studium als Wagnis und als Lebensschule. «Man muss eine solche Freiheit erst einmal aushalten lernen», sagt er. «Die meisten Studierenden hier durchleben irgendwann Selbstzweifel, aber auch viel Euphorie.»

Welche Ideen aus der ungewöhnlichen Freiheit und dem Diplomthema «Kommit to Conflict» entstanden sind, können Interessierte noch bis mindestens September 2020 im «Distrikt 19» auskundschaften.

Ein ungewöhnliches Studium

Bei seiner Einführung 1999 startete der Studiengang Prozessgestaltung als ein pädagogisches Experiment, erzählt Institutsleiter Matthias Böttger. Zu Beginn stand vor allem das Entwerfen mit digitalen Werkzeugen im Zentrum, es entstanden CD-ROMs, Websites, Videos. Bald beschäftigten sich die Studierenden zunehmend mit gesellschaftlichen Veränderungen und den damit verbundenen menschlichen Beziehungen. Der Studiengang hat kein sich wiederholendes inhaltliches Curriculum, stattdessen legen Studierende und Dozierende zusammen Jahresthemen fest. Der Studienjahr 2019/20 steht unter dem Thema «Kommit to Conflict». Dabei geht es darum, Konflikte nicht negativ zu sehen, sondern als Chance, sich auf sie einzulassen, um etwas zu verändern. Jede Woche organisiert das Institut zudem Workshops mit externen Gastdozierenden. Deren Inhalte sind extrem divers: Innerhalb einer Woche kann es etwa ums Programmieren mit Java, um Mensch-Computer-Interaktionen, innere Konflikte und gewaltfreie Kommunikation gehen. Pro Jahr werden 26 Studierende aufgenommen.

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