Johann Weichbrodt forscht an der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW zu mobiler Arbeit.
18. Juni 2020

Was macht das unfreiwillige Home-Office mit uns?

Die Coronavirus-Pandemie hat uns gezwungen, das grösstmögliche Home-Office-Experiment durchzuführen. Wie wir mit dieser besonderen Lage umgehen können und welche Auswirkungen sie auf uns hat, weiss Johann Weichbrodt von der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW.

Herr Weichbrodt, Sie erforschen seit Jahren, wie wir klüger und besser arbeiten können. Welche Rolle spielte dabei die Arbeit von zu Hause aus?

Das Bedürfnis nach mobiler Arbeit ist in den letzten Jahren gewachsen, auch in der Schweiz. Das zeigen unsere zahlreichen Studien, von denen die FHNW viele interdisziplinär und in Zusammenarbeit mit anderen Hochschulen und Unternehmen, sowie mit der Work-Smart-Initiative, durchgeführt hat.

Auch an der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW selbst haben wir in den letzten Jahren deutlich mehr Anfragen von Unternehmen bekommen, sie bei der Einführung mobiler Arbeit zu begleiten. Sie erhoffen sich davon mehr Flexibilität und Agilität.

Gemäss Bundesamt für Statistik arbeitete 2019 erst etwa ein Drittel der Erwerbstätigen in der Schweiz zumindest gelegentlich im Home-Office.

Das stimmt, und damit ist die Schweiz im europäischen Vergleich im oberen Mittelfeld. Vorreiter sind die skandinavischen Länder, Frankreich, Grossbritannien und die Niederlande. Bei dieser Zahl muss man aber berücksichtigen, dass bei rund der Hälfte der Beschäftigten in der Schweiz Home-Office gar nicht möglich ist, sei das für Mechanikerinnen oder Kassierer. Hingegen machen Personen, für die Home-Office theoretisch möglich wäre, die es aber nicht möchten, nur etwa sechs Prozent der Beschäftigten aus.

«Die meisten Personen können gut mit der Situation umgehen. Für einige ist es jedoch eine extreme Belastung.»
Diese sechs Prozent sind nun aber durch die Corona-Krise zu mobiler Arbeit gezwungen – so wie wir alle. Wie gehen sie damit um?

Wir haben Ende Jahr mit einer Organisation in Deutschland einen Pilotversuch mit 90 Mitarbeitenden gestartet. Sie arbeiten ein halbes Jahr mobil. Das ging im Januar los, seither befragen wir sie alle zwei Wochen. Die Corona-Krise liegt genau mitten in diesen sechs Monaten, was aus Forschungssicht ein unglaublicher Glücksfall ist.

Unsere Befragungen zeigen, dass die meisten Personen gut mit der Situation umgehen können. Natürlich leidet bei allen der informelle Austausch und das Gefühl, mit anderen zusammen ein Team zu sein. Videokonferenz- und andere Chat-Tools können dies nur teilweise ersetzen.

Ähnliche Resultate zeigen auch andere aktuelle Befragungen, beispielsweise eine von den Kolleginnen und Kollegen von der Hochschule für Wirtschaft FHNW: Den meisten Arbeitskräften geht es im Dauer-Home-Office einigermassen gut. Für einige jedoch ist es eine extreme Belastung.

Erkennen Sie ein Muster bei den Mitarbeitenden, die besonders unter der Situation leiden?

Zum einen sind es Eltern, die gleichzeitig Betreuungsaufgaben haben. Sie sind besonders gefordert, da sie mit der Gleichzeitigkeit von Kinderbetreuung und Arbeit Anforderungen von zwei Seiten haben. Diese Gleichzeitigkeit ist für mich auch ein Appell an alle Führungskräfte: Ihnen muss klar sein, dass Kinderbetreuung oder Betreuung von anderen Angehörigen bedeutet, dass diese Mitarbeitenden nicht die volle Leistung erbringen können. Betreuung und Haushalt sind auch Arbeit. Das geht in der gesellschaftlichen Diskussion immer wieder unter und wird zu wenig wertgeschätzt.

Weiter sind auch Alleinlebende härter von der Home-Office-Verordnung betroffen, da sie noch weniger physischen Austausch erleben.

Eltern mit gleichzeitigen Betreuungsaufgaben sind mit im Home-Office besonders gefordert. Dass Betreuung auch Arbeit ist, wird nach Ansicht von Johann Weichbrodt häufig noch unzureichend anerkannt. (Foto: istockphoto.com/Phynart Studio)
Auf der Webseite der FHNW präsentieren Fachpersonen der Arbeits- und Organisationspsychologie sowie weitere Expertinnen und Experten Tipps für das Home-Office während der Corona-Pandemie.

Ja, aber wir mussten einiges improvisieren. Denn die bisherige Forschung zu Home-Office fokussierte praktisch ausschliesslich auf freiwilliges, zeitlich beschränktes Home-Office. Dieses Wissen ist also in der aktuellen Situation nur bedingt nützlich. Dennoch haben unsere Tipps recht grosse Beachtung gefundenen. In den Monaten März und April war es gar die meistaufgerufene Seite der Hochschule. Durch die Pandemie bekommt das Thema mobile Arbeit nun also einen enormen Schub. Es wird nochmals relevanter, auch für die Forschung an der FHNW.

«Home-Office-Skeptikerinnen und Skeptiker in Führungspositionen haben nun gesehen, dass produktive Arbeit auch zu Hause möglich ist.»
Wie wird die Pandemie Home-Office nachhaltig verändern? Die Mitarbeitenden vom Social-Media-Konzern Twitter müssen auch nach Corona nicht zurück ins Büro, während Microsoft-Chef Satya Nadella vor dauerhaftem Home-Office warnt.

Bisher wurde die Debatte «Home-Office ja oder nein» oftmals rein spekulativ geführt. Wir alle sammeln aber derzeit Home-Office-Erfahrungen, weshalb sich die gesamte Diskussion um mobile Arbeit verändern wird. Die gesammelten Erfahrungen sind jedoch extrem, da das Home-Office für die Pandemie quasi zweckentfremdet wurde. Schliesslich ist das Grundprinzip der mobilen Arbeit eigentlich die Flexibilität.

Dennoch haben nun Home-Office-Skeptikerinnen und Skeptiker in Führungspositionen gesehen, dass produktive Arbeit auch zu Hause möglich ist. Ob es jedoch einen dauerhaften Schub gibt, hängt auch davon ab, wie reflektiert und bewusst wir nun damit umgehen. Wie viel Home-Office wollen wir? Was erhoffen wir uns davon? Wie gehen wir mit der Balance zwischen individuellen Wünschen und Anforderungen des Teams um? Die Pandemie hat uns vor viele Fragen gestellt, die die Forschung, Unternehmen und wir alle in den kommenden Monaten und Jahren beantworten müssen.

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