Bildmontage von einer Frau am Laptop , die Multitasking verschiedene Aufgaben parallel erledigt.
Die Abgrenzung von Arbeit und Privatleben fällt vielen Menschen schwer. Foto: Patrick Kälin
15. Juni 2023

Einfach mal abschalten

In der heutigen Arbeitswelt sind Pop-up-Nachrichten, Mails und Videokonferenzen in vielen Jobs an der Tagesordnung. Um trotz dieses stressigen Alltags gesund und leistungsfähig zu bleiben, sollten wir Arbeit und Privatleben auch mal trennen und uns in Ruhe einer Aufgabe widmen können. Forschende der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW haben untersucht, wie sich die Kontrolle über unseren Tagesablauf auch im digitalisierten Berufsleben zurückgewinnen lässt.

Früher gingen die Menschen ins Büro, machten dort ihre Arbeit und kamen abends wieder nach Hause. Das machte es einfacher, die Arbeit in der Firma zu lassen und abends abzuschalten. Doch die Digitalisierung hat unsere Arbeitswelt umgekrempelt. Heute können wir dank Laptops und Smartphones die Arbeit von überall erledigen: von zu Hause, von unterwegs oder sogar aus der Hängematte in den Ferien. Das ist sicher keine Verschlechterung zu früher, denn das mobil-flexible Arbeiten bietet uns viel Freiheit. Aber es stellt uns auch vor neue Herausforderungen.

Wie die Abgrenzung von Arbeit und Privatleben angesichts der Digitalisierung gelingt, untersucht Julia Widler, Psychologin und Studienleiterin im Forschungsprojekt «Digital Balance» der Hochschule für Angewandte Psychologie der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Sie erklärt: «Die Situation ist paradox: Durch die Digitalisierung können wir unsere Arbeit viel besser steuern und selbst entscheiden, wann wir wo arbeiten möchten. Gleichzeitig fühlen wir uns aber mehr und mehr fremdbestimmt durch unsere Smartphones und die ständige Erreichbarkeit mit ihnen.» In ihrem Forschungsprojekt untersucht Widler dieses Paradox in Gesprächen mit Führungskräften und ihren Teams, und sie gibt ihnen Tipps auf den Weg, wie sie das Paradox auflösen können und die Kontrolle zurückgewinnen.

«Trauen Sie sich, einmal offline zu sein.»
Julia Widler, Psychologin an der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW

Geteilte Aufmerksamkeit

Widler kennt diese Situation aus ihrem eigenen Alltag: «Ich habe mich auch immer von Pop-up-Fenstern und Benachrichtigungen unterbrechen lassen, war dann gestresst und habe meine Aufgaben trotzdem nicht geschafft. Im digitalisierten Alltag rutschen wir sehr leicht in die passive Rolle, in der wir zum grossen Teil Anfragen von aussen beantworten, aber nicht selbstbestimmt arbeiten.» Doch eigentlich war die selbstbestimmte Arbeit einmal eines der Versprechen der Digitalisierung. «Ein E-Mail kann ich beantworten, wann es mir passt», betont Widler. «Ich muss mich nicht sofort damit befassen wie mit einem Telefon.» Aber Benachrichtigungen auf dem Smartphone oder Pop-up-Fenster auf dem Computer fordern uns zur sofortigen Reaktion auf. Sie nehmen uns eine positive Wirkung der Digitalisierung wieder weg: die Kontrolle über unseren Zeitplan und den Arbeitsauflauf. Deshalb rät die Forscherin: «Schalten Sie einfach alle Benachrichtigungen ab und nehmen Sie sich stundenweise Zeit für konzentrierte Arbeit.»

Eine Frau wechselt die Schuhe von High-Heels zu Sneakers.

Rollenwechsel in Eigenregie

Neben den Massnahmen für mehr Selbstbestimmung in der Arbeit zeigt die Forschung auch, dass Arbeit und Privatleben zunehmend verschwimmen. Dass dies zu Problemen führen kann, wissen viele Menschen aus eigener Erfahrung. Es wird schwieriger abzuschalten, wenn der Arbeitslaptop immer griffbereit ist oder die E-Mails von Geschäftspartner*innen auch auf dem Smartphone eintreffen. «In manchen Situationen geniessen wir es vielleicht, Arbeit und Privatleben ineinander übergehen zu lassen», sagt die Forscherin. Aber auch Menschen, die diese Verknüpfung mögen, sollten abschalten und die beiden Bereiche trennen können, wenn sie das möchten. Dafür hat Widler ein paar Vorschläge parat: «Wer zum Beispiel auch im Homeoffice die Kleidung für die Arbeit wechselt, kann dann abends in die bequeme Hose schlüpfen. So schaltet man ab und wechselt in die Rolle als Privatperson.» Auch die App fürs E-Mail muss nicht bei jedem auf dem Smartphone installiert sein oder zumindest nicht auf dem Startbildschirm. «Nicht die Benachrichtigung auf dem Smartphone-Bildschirm sollte dazu führen, wann Sie ihr Arbeits-Mail anschauen – Sie selbst sollten diese Entscheidung treffen», betont die Forscherin.

«Die digitale Weiterentwicklung sorgt dafür, dass wir Aspekte der Digitalisierung wieder verlieren, die eigentlich gut waren. Dann müssen wir gegensteuern.»
Julia Widler, Psychologin an der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW

Gegensteuern im Team

Doch was tun, wenn alle anderen im Team anscheinend immer verfügbar sind und nur Sie sich abgrenzen möchten? «Ein offenes Gespräch im Team wirkt Wunder», weiss Widler aus ihren Forschungen. «Wenn Sie Ihre Bedürfnisse äussern, gibt es oftmals Lösungen, die die Situation für alle verbessern.» Dafür bietet das Projektteam einen halbtägigen Workshop für Teams an. Hier besprechen die Teilnehmenden genau solche Massnahmen zur Abgrenzung und Selbstbestimmung. Widler erzählt: «In den Workshops räumen wir häufig mit Missverständnissen im Team auf. Wenn ich zum Beispiel oft E-Mails am Freitagabend von meinem Vorgesetzten bekomme, heisst das nicht automatisch, dass ich sie übers Wochenende bearbeiten soll – vielleicht möchte die andere Person einfach nur vor dem Wochenende ihren Posteingang aufräumen.» Neben den Workshops hat das Projektteam einen Online-Kurs für Führungskräfte erarbeitet. Schritt für Schritt lernen sie hier in vier Wochenmodulen mit interaktiven Inhalten, praxisnahen Beispielen und Übungen, mit welchen Massnahmen sie für eine bessere digitale Balance für sich selbst und ihre Mitarbeitenden sorgen können. Beides hat grossen Anklang gefunden: «Wir haben bereits etwa einhundert Teams mit unseren Workshops oder Online-Kursen unterstützt», freut sich Widler.

Neben den Workshops und Kursen entwickelt das Projektteam eine App namens «Always on(line)». Sie begleitet Personen im Arbeitsleben und schlägt ihnen mögliche Strategien vor, wie sie sich besser von der Arbeit abgrenzen können. So lässt sich sie ihre Work-Life-Balance» verbessern – doch diesen Begriff vermeidet Widler lieber: «Work-Life-Balance klingt nach einem Wohlfühlthema, einem Luxusproblem für Leute, die ihre Arbeit nicht lieben. Aber das ist es nicht: Jeder und jede leistet mehr und bessere Arbeit, wenn es einem gut geht.»

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