Neue flexible, kooperative und selbstorganisierte Lernformen brauchen neues, multifunktionales Mobiliar. Foto: Milly Stucki und Rahel Mor
21. März 2023

Flexible Möbel für flexibles Lernen

Die Zeiten, in denen Klassenzimmer nur mit Pulten und Stühlen ausgestattet waren, gehen zu Ende. Um flexibel, kooperativ und selbstorganisiert lernen zu können, braucht es modernes Mobiliar. Zwei Studentinnen von der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW haben in ihrer Bachelorarbeit ein Möbelstück für Primarschulkinder gestaltet, das neugierig macht und für vielerlei Aufgaben genutzt werden kann.

Wie sah denn Ihr Klassenzimmer aus, als Sie ein Kind waren? Ein Raum, vollgestellt mit Tischen und Stühlen, nach vorne zur Wandtafel ausgerichtet? Eine Lehrperson, die dort etwas vorrechnet, wenn Sie Glück hatten, vielleicht eine Leseecke? In der Pädagogik hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges getan. Die Klassenzimmer sind aber oft noch veraltet. Zwei Studentinnen von der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW machen mit ihrer Bachelorarbeit ein Design-Angebot für das Klassenzimmer der Zukunft: ein multifunktionales Möbelstück, das je nach Bedarf als Stehtisch, Pult und Stuhl, Rückzugsort oder auch als Spielzeug dienen kann.

«Mit der starren Klassenzimmermöblierung in vielen Schulen sind wichtige Elemente des Lehrplan 21 oft gar nicht richtig umsetzbar.»
Milly Stucki, Absolventin des Studiengangs Industriedesign an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW

«Der Frontalunterricht wird mehr und mehr durch kooperative Lernformen wie selbstorganisiertes Lernen, Gruppenarbeiten, Projekt- oder Werkstattarbeit abgelöst», erklärt Rahel Mor, die das Möbel gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Milly Stucki entworfen hat. Beide haben vor ihrem Industriedesign-Studium bereits mit Kindern gearbeitet, Mor als Primarlehrerin und Stucki als Fachfrau Betreuung. Ihr pädagogisches Wissen wollten die beiden auch für ihre Abschlussarbeit nutzen. «Mit der starren Klassenzimmermöblierung in vielen Schulen sind wichtige Elemente des Lehrplan 21 oft gar nicht richtig umsetzbar», bedauert Stucki. «Lehrpersonen müssen deshalb nicht selten auf den Gang oder auch den Boden als zusätzliche Lernorte ausweichen. Das passende, flexible Mobiliar für diese unterschiedlichen Lernsituationen fehlt aber.»

Kein blosses «Redesign»

Mit einem blossen «Redesign» der bestehenden Klassenzimmereinrichtung war es für die beiden Designerinnen aber nicht getan. Stattdessen wollten sie ein völlig neues Möbelstück entwerfen, das in seinem Design den vielfältigen Bedürfnissen in einem modernen Primarschulklassenzimmer gerecht wird. So fragten sie Lehrpersonen und Schüler:innen, interviewten Architekt:innen, die Schulhäuser entwerfen, und Personen, die für die Mobiliarbeschaffung an Schulen zuständig sind. Weiter haben Mor und Stucki den Schulalltag in Primarschulklassen beobachtet und bestehende Designs für Büros recherchiert, wo flexible Formen der Zusammenarbeit ebenfalls wichtig sind.

Meret Ernst von der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW hat die Arbeit aus theoretischer Perspektive mitbetreut. Für sie gehören solche Befragungen und das Beobachten der zu gestaltenden Situationen zum zeitgenössischen Design dazu: «Ein zeitgemässer Designbegriff berücksichtigt den Kontext, in den sich ein Entwurf einfügt. Das umfasst in diesem Fall alle Aktionen im Klassenzimmer und alles, was diese Aktionen formiert.»

Rahel Mor (links) und Milly Stucki, Absolventinnen des Studiengangs Industriedesign an der HGK Basel FHNW, haben das vielseitig nutzbare Möbelstück entwickelt. Foto: Andre Hoenicke

Fläzen, lesen, entdecken, verstecken und sich zurückziehen

«Gutes Design soll Lust machen, einen Gegenstand zu benutzen», sagt Mor. Eine besondere Herausforderung dabei: Das Schulmöbel sollte für Erst- bis Sechstklässler:innen nützlich sein. Neben der unterschiedlichen Körpergrösse der Kinder mussten Mor und Stucki also auch verschiedene Nutzungsformen berücksichtigen: Während jüngere Kinder eher damit spielen, sollte es für die älteren zum Beispiel ein Stehtisch oder Gruppenarbeitsplatz sein, der sich flexibel verschieben lässt.

«Gutes Design soll Lust machen, einen Gegenstand zu benutzen.»
Rahel Mor, Absolventin des Studiengangs an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel FHNW

Basierend auf all diesen Erkenntnissen entwarfen sie «Piazza», ein treppenförmiges Möbelstück, das aus einem leichten PET-Material gefertigt ist. So können es schon die jüngsten Kinder selbstständig verschieben. Doch das Material bietet noch weitere Vorteile: Es schluckt Schall – praktisch, wenn es im Klassenzimmer etwas lauter wird –, hat feuerhemmende Eigenschaften und besteht zu sechzig Prozent aus recyceltem Plastik. Für die nötige Stabilität sorgt ein leichtes Metallgerüst. Durch ihre hohle Form lassen sich die Möbelstücke ineinanderschieben und platzsparend verstauen. Ausserdem können kleinere Kinder so auch ins Innere des Möbels schlüpfen. «Wenn man hineingeht, hört man die Aussenwelt nur noch sehr gedämpft», erzählt Stucki, «so können sich die Kinder auch einmal zurückziehen».

Probieren, probieren, probieren

Auf der Basis dieser theoretischen Überlegungen haben die Designerinnen Prototypen hergestellt und mit verschiedenen Zielgruppen in den Klassenzimmern getestet. Dieses Vorgehen ist ein wichtiger Bestandteil des «Design Thinking»-Ansatzes, dem die beiden in ihrem Entwicklungsprozess gefolgt sind. «Durch unsere früheren Ausbildungen konnten wir uns zwar besser in die Kinder hineinversetzen. Aber als wir unsere Modelle dann in die Klassen brachten, haben die Kinder trotzdem Sachen damit gemacht, an die wir nie gedacht hätten», erzählt Stucki amüsiert. «Zum Beispiel haben sie die Löcher in der Seitenwand, die von uns eigentlich nur als Griffe gedacht waren, direkt ins Spiel eingebaut.»

Das multifunktionale Schulmöbel ist nicht nur vielseitig einsetzbar, sondern auch praktisch. Mehrere Möbelstücke lassen sich platzsparend ineinanderschieben. Foto: Milly Stucki und Rahel Mor

Marktreif ist «Piazza» zwar (noch) nicht. Dafür bräuchte es weitere Entwicklungsarbeit, die den Rahmen der Abschlussarbeiten sprengt. Sven Adolph, der das Projekt als Praxisdozent begleitet hat, sieht in dem Möbel aber dennoch «einen gelungenen Beitrag zum Schulmöbeldesign». Besonders begeistert ist Adolph von der grossen Flexibilität von «Piazza»: «Das Möbelstück lässt sich drehen, zusammenschieben, aufstellen, mit anderen Möbeln kombinieren oder als Rückzugsort benutzen. Das ist wirklich etwas Neues für die Schule. Im Büro haben sich ähnliche Konzepte schon längst bewährt. Deshalb sehe ich gute Erfolgschancen für eine Anwendung in der Praxis.» Für die Weiterentwicklung von «Piazza» sind Stucki und Mor im Gespräch mit verschiedenen Schulmöbelherstellern und werden von der Stiftung Pro Helvetia durch ein Coaching-Programm unterstützt.

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