Neue Klangwelten erforschen – vom eigenen Sofa aus
Wenn Musiker*innen und Komponist*innen nicht reisen können, gibt es doch Wege, Instrumente aus der Ferne zu spielen. So lässt sich an der Hochschule für Musik FHNW auf dem Campus der Musik-Akademie Basel eine einzigartige Orgelrekonstruktion aus dem 16. Jahrhundert per Computer ansteuern. Die Musik wird dabei live aus dem Musikzimmer übertragen und ermöglicht damit das Komponieren über Distanzen hinweg oder Musikstudien im Home-Office.
Eine Oktave hat zwölf Töne, das lernt man im Musikunterricht. Doch an der Hochschule für Musik FHNW steht eine Orgel mit ganzen 36 Tasten pro Oktave. Darauf müssen sich nicht nur die Hände einspielen: Mit dem weltweit einmaligen «Arciorgano» lassen sich auch ganz andere Klänge produzieren, als das westliche Ohr gewohnt ist. So futuristisch das klingt – neu ist die Idee nicht. Das Instrument, das im Rahmen des von Innosuisse geförderten Forschungsprojekts «Studio31» gebaut wurde, ist der Nachbau einer historischen Orgel aus dem 16. Jahrhundert. Nicola Vicentino, ihr italienischer Erfinder, pries sie damals als Instrument an, mit dem man die Musik aller Völker spielen könne. Tatsächlich ist die Einteilung der Oktave in zwölf gleich grosse Halbtöne ein ziemlich westliches und modernes System. «Aussereuropäische Musik teilt die Oktave teilweise anders ein und verfügt damit über ganz unterschiedliche Klangfarben», sagt Martin Kirnbauer, Leiter Forschung an der Schola Cantorum Basiliensis der Hochschule für Musik FHNW. «Auch in Mitteleuropa gab es früher unterschiedliche Tonsysteme und noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde viel mehr mit verschiedenen Stimmungen der Instrumente experimentiert.»
Eine Medaille als Vorlage
Mit dem Nachbau der Renaissance-Orgel «Arciorgano» können solche feinen Zwischentöne hörbar und als Musik erlebbar gemacht werden. Ein Team der Hochschule für Musik FHNW hat das Instrument gemeinsam mit dem Basler Orgelbauer Bernhard Fleig rekonstruiert. «Durch theoretische Abhandlungen Vicentinos und einige alte Musikstücke, die für das Arciorgano geschrieben waren, wussten wir von dem Instrument. Doch es gab nur ein einziges historisches Dokument – eine Art Werbeschrift –, auf dem ein paar technische Informationen zum Instrument aufgeführt waren, aber keine detaillierten Abbildungen», erinnert sich Johannes Keller von der Schola Cantorum Basiliensis. «Auf einer Medaille zu Ehren Vicentinos war aber ganz klein ein Arciorgano abgebildet. Mithilfe dieser Medaille und den schriftlichen Hinweisen konnten wir uns den Aufbau und die Funktionsweise der Orgel wie ein Puzzle erschliessen.» Nach mehreren Jahren Rekonstruktionsarbeit bringt die Orgel nun, unter anderem in einer Konzertreihe im «Gare du Nord» in Basel, ganz unterschiedliche Stücke zum Klingen: vom Madrigal über serbische Volkslieder bis hin zu zeitgenössischen Kompositionen.
Orgelspielen übers Internet
Aber auch in Pandemie-Zeiten muss das Instrument nicht in der Ecke verstauben, denn die Forschenden der Schola Cantorum Basiliensis haben es nun mit einer Selbstspielvorrichtung ausgestattet. Damit lässt sich die Orgel über das Internet von überall auf der Welt aus ansteuern. Wenn ein Musiker oder eine Komponistin das Instrument vom Computer aus spielt, bewegen sich die Tasten der Orgel im Akademiezimmer am Leonhardsgraben wie von Geisterhand. Mit ein wenig Glück lässt sich dieses Schauspiel durch die grossen Fenster des Akademiezimmers sogar vom Trottoir aus beobachten. Die Tasten werden dabei durch eingebaute Magnete bewegt, die über eine Computer-Schnittstelle gesteuert werden. Die nötige Luft besorgt sich die Orgel gleich selbst: Die Blasebälge werden nicht mehr von Hand, sondern mit einem Motor angetrieben. Die dabei entstehenden Klänge werden schliesslich von mehreren Mikrophonen aufgenommen und über das Internet übertragen. So bekommen die Musikerinnen und Komponisten, die entweder in Echtzeit auf dem Instrument spielen oder eine Partitur einlesen, den Klang direkt aus dem Akademiezimmer in ihre Kopfhörer eingespielt.
Musiktheorie zum Anfassen
Das Angebot, die Orgel aus der Ferne zu spielen, wird von Tastenspieler*innen und Komponist*innen rege genutzt. So sind in den letzten Jahren schon einige Kompositionen eigens für dieses einzigartige Instrument entstanden. Zudem wird die Orgel regelmässig für den Unterricht eingesetzt. «Mit diesem so vielfältig spielbaren Instrument werden musiktheoretische Konzepte haptisch erfahrbar», freut sich Martin Kirnbauer, der sich in seiner Forschung ausführlich mit Vicentinos Schriften auseinandersetzt. «Diese Rückbindung der Theorie an die Musik kann einfach nur ein reales Instrument leisten». Das sei gerade bei so anspruchsvollen, experimentellen Autoren wie Vicentino wichtig.
Für Johannes Keller, der sich auf Historische Stimmungen spezialisiert hat, eröffnet das Arciorgano eine völlig neue Welt: «Es ist ein Instrument des Hinterfragens; eine Art Mikroskop, mit dem man präziser beobachten und Neues entdecken kann. Wir haben uns über so lange Zeit an die Klänge zwölfstufiger Tonsysteme gewöhnt. Doch jetzt ist die Zeit wieder reif für andere Einteilungen – und zwar nicht nur in der Alten Musik, sondern auch in der Zeitgenössischen.» Die Genauigkeit, die diese so viel präziser gestimmte Orgel einem abverlangt, beeinflusst auch, wie man konventionelle Musik hört und denkt. Zum Beispiel wird unsere gewohnte Notation auf fünf Notenlinien von der Fülle an Möglichkeiten überfordert. So müssen wir neue Arten finden, Musik festzuhalten.
Auch durch die Selbstspielfunktion der Orgel eröffnen sich vielerlei Möglichkeiten: In Zukunft sollen durch die Schnittstelle auch andere Inputs als Noten oder ein Tastendruck in Musik verwandelt werden. Mit der passenden Software liessen sich zum Beispiel Gesten in Musik übersetzen. Und mit Algorithmen kann sogar Musik geschaffen werden, die sich von selbst neu kreiert. «Schon während der Rekonstruktion hat uns das Arciorgano immer wieder ganz unerwartet inspiriert», erzählt Kirnbauer, «nun sind wir gespannt, zu welchen neuen, spannenden Ideen es seine Nutzerinnen und Nutzer bringt».
Mehr vom Arciorgano zum Anhören: