Für die Orthese wird die Fussstellung in einem Magnetfeld ausgemessen. Das ist einfacher und sauberer als ein Gipsabdruck. Foto: Sabine Goldhahn
15. März 2022

Sensorsocke für perfekte orthopädische Schienen

Orthopädische Schienen trägt niemand gern. Umso wichtiger ist deshalb, dass sie gut sitzen. Denn eine Schiene hilft nur bei regelmässigem Gebrauch. Forschende der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW haben deshalb eine Socke mit Sensoren entwickelt, die eine präzise 3D-Messung der Fussform ermöglicht.

Fehlstellungen eines Fusses beeinträchtigen die Betroffenen stark. Sie bekommen Schmerzen oder entwickeln Fehlhaltungen. Damit das nicht passiert, gibt es Orthesen – orthopädische Schienen, die das Gelenk in einer bestimmten Position halten oder schonen. «Manche Schienen müssen fast den ganzen Tag getragen werden», sagt Joris Pascal, Forscher am Institut für Medizintechnik und Medizininformatik der Hochschule für Life Sciences FHNW. «Wenn sie dann nicht richtig sitzen und Druckstellen verursachen, werden sie auch nicht benutzt. Für den Behandlungserfolg kann das fatal sein.» Pascal hat deshalb mit seinem Team ein Verfahren entwickelt, das eine hohe Passgenauigkeit der Schienen erreicht, indem der Fuss in einem Magnetfeld vermessen wird.

Millimeter entscheiden

Generell liegt jeder passgenauen Schiene ein Modell zugrunde, für das die individuelle Fussform erfasst werden muss. Dafür braucht die Fachperson für Orthopädietechnik Fingerspitzengefühl. Sie erstellt zunächst einen Gipsabdruck, indem sie den Fuss mit beiden Händen millimetergenau in die richtige Lage bringt. Etwa eine halbe Stunde später ist der Gips am Fuss getrocknet, sodass die harte Hülle aufgeschnitten und die innere Form des Gipsabdrucks mit einem optischen 3D-Scanner erfasst werden kann. Der Scanner liefert die Bilder an einen Computer, der ein digitales Abbild des Fusses berechnet. Auf Grundlage dieses Bildes wird dann die patient*innenspezifische Korrekturschiene hergestellt.

Je mehr Sensoren die Socke enthält, umso genauer wird das digitale Abbild des Fusses. Damit lässt sich ein passgenaue Orthese fertigen. Quelle: FHNW/IM2, Foto: Corentin Féry

An diesem aufwendigen Gips-Prozess hat sich, abgesehen von der digitalen Erfassung, seit rund hundert Jahren kaum etwas verändert. Dabei können schon durch kleine Bewegungen des Fusses Ungenauigkeiten entstehen. Pascal und sein Team haben dieses fehleranfällige Prozedere nun vereinfacht, indem sie die Fussstellung mit einer elektronisch verknüpften Socke in Sekundenschnelle aufzeichnen. «Die Idee solch einer intelligenten Socke zur Orthesenherstellung hatte der Orthopädiemeister Thomas Ruepp schon anfangs der 1990er-Jahre, und gemeinsam mit meinem FHNW-Kollegen Ralf Schumacher haben wir die Möglichkeit, Sensoren in Textil zu integrieren, dann patentieren lassen», erzählt Pascal. Doch erst jetzt wurde aus der Idee eine erste Prototyp-Socke: in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitstechnologie-Start-up Bellwald Tec.

Die Socke enthält über hundert kleine Magnetfeld-Sensoren im Textil und kann Fussstellungen innert weniger Sekunden auf zwei bis drei Millimeter genau vermessen. Dabei reicht es, dass der Fuss samt Socke in der gewünschten Fussstellung über ein Magnetfeld gehalten wird, das von kleinen stromdurchflossenen Spulen erzeugt wird. Der Aufbau ist so klein und kompakt, dass die Spulen schon unter der Behandlungsliege einer Orthopädiepraxis Platz hätten.

Fussmodell auf Tastendruck

«Sobald der Fuss richtig positioniert ist, wird die Messung per Tastendruck ausgelöst», erklärt Pascal. «Die Sensoren liefern die Messwerte an einen Computer, welcher die Position jedes Sensors eindeutig berechnet und daraus die Fussform als digitales 3D-Modell rekonstruiert.» Was danach kommt, unterscheidet sich nicht von der herkömmlichen Orthesenherstellung: Immer häufiger werden die Orthesen 3D-gedruckt.

Joris Pascal vom Institut für Medizintechnik und Medizininformatik der Hochschule für Life Sciences FHNW
«Manche Betroffene tragen ihre unbequeme Schiene nur selten und verzichten aus Kostengründen auf eine bessere Version. Die Folge kann eine bleibende Fehlstellung sein.»
Joris Pascal, Institut für Medizintechnik und Medizininformatik, Hochschule für Life Sciences FHNW

Erleichterung für alle Beteiligten

«Wir wollten eine Lösung, die nahtlos dem gewohnten Arbeitsablauf der Fachpersonen für Orthopädietechnik folgt», sagt Pascal. Nasse und tropfende Gipsbinden sollen damit bei Orthopädietechnikerinnen schon bald der Vergangenheit angehören. Und auch die Patientinnen haben dann einen Vorteil: Wenn ihre Schiene mithilfe des 3D-Modells, das aus der Messung mit der Sensorsocke hervorgeht, erstellt wird, müssen sie nicht mehr minutenlang stillhalten, bis der Gips ausgehärtet ist, sondern nur noch einige Sekunden.

Vor allem aber sollen die Messergebnisse präziser werden, damit die Schienen bereits beim ersten Anlauf perfekt sitzen. Das spart Zeit und Mühe und kann für die erfolgreiche Behandlung entscheidend sein: «Manche Betroffene tragen ihre unbequeme Schiene nur selten und verzichten aus Kostengründen auf eine zweite, vielleicht bessere Version», erklärt Pascal. Denn für Orthesen zahlen die Krankenkassen nur einen Pauschalbetrag. Die Kosten für eine zweite oder gar dritte Orthese – oft mehrere Tausend Franken – müssen die Patient*innen aus dem eigenen Portemonnaie finanzieren. Das wollen oder können viele Betroffene nicht. Pascal sorgt sich: «Die Folge einer nicht ideal sitzenden Orthese kann eine bleibende Fehlstellung sein, die womöglich zu Gehbeeinträchtigungen und Arbeitsunfähigkeit führt.»

«Wir wollten eine Lösung, die nahtlos dem gewohnten Arbeitsablauf der Fachpersonen für Orthopädietechnik folgt.»
Joris Pascal

Deshalb hat er das Projekt Sensorsocke vorangetrieben und startet in einigen Monaten mit mehreren Orthopädiemeister*innen den ersten Testlauf ausserhalb des Labors. Davon erhoffen sich die FHNW-Forschenden wertvolles Feedback für die weitere Verbesserung der Socke. Für ihren späteren routinemässigen Einsatz muss die Socke noch robuster werden, damit sie zigmal an- und ausgezogen und gewaschen werden kann. Denn die Forschenden wollen mit der Socke ein nachhaltiges Produkt etablieren. «Die Elektronikchips in der Sensorsocke können problemlos zehn Jahre lang funktionieren», so der Forscher, «man muss sie nicht nach einer einzigen Verwendung wegwerfen.»

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