Eines der beiden Suhrer Nachbarschaftshäuser: Ein Ort für gemeinschaftliche Projekte – dazu gehört auch ein offener Bücherschrank. (Bild: Quartierentwicklung)
26. März 2019

«Vernetzung passiert nicht einfach so»

Was, wenn eine Gemeinde stark wächst und Zuzüglerinnen und Zuzügler Mühe haben, Anschluss zu finden? Wenn die Sozialhilfekosten steigen und sich ein Graben auftut zwischen reicheren und ärmeren Quartieren? Dafür, dass es nicht so weit kommt, sorgt eine innovative Quartierentwicklung, wie sie etwa die Gemeinde Suhr mit Unterstützung der FHNW betreibt.

Als der Vizebürgermeister von Strassburg und die Vizepräfektin der Region Grand Est gemeinsam die Aargauer Gemeinde Suhr besuchten, war das eine grosse Sache. Die beiden Politiker aus dem Elsass liessen sich durch Suhrs Quartiere führen und schauten sich an, was die Gemeinde in Sachen Quartierentwicklung tut. «Dass sich diese beiden hohen Würdenträger die Zeit dafür nahmen, zeigt, wie wichtig ihnen der Austausch selbst mit dem vergleichsweise kleinen Suhr ist», sagt Jutta Guhl. Sie ist Soziologin und Sozialarbeiterin an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW und leitet die Schweizer Seite des grenzübergreifenden Austauschprojekts MARGE.

In dem Projekt tauschen sich neun Gemeinden aus drei Ländern – Frankreich, Deutschland und die Schweiz – über ihre Ideen in der Quartierentwicklung aus (siehe Infobox). Davon profitieren alle Beteiligten, denn vielerorts stehen Städte und Gemeinden vor denselben Herausforderungen: Die Orte wachsen, Sozialausgaben steigen, Quartiere drohen abgeschnitten und marginalisiert zu werden. So besteht die Gefahr, dass sich die Einwohnerinnen und Einwohner zunehmend isoliert fühlen, fremd im eigenen Wohnort.

Das versuchen die politischen Gremien der Gemeinden zu verhindern, sie wollen den sozialen Zusammenhalt stärken und benachteiligte Quartiere aufwerten. «Dafür gibt es viele tolle Ideen und auch Unterstützung aus der Bevölkerung», sagt Guhl. Doch häufig bleiben Ideen und Erfolgsgeschichten in den einzelnen Gemeinden oder Quartieren – das Wissen verbreitet sich nicht weiter. «Dabei könnten die Akteure viel voneinander lernen.»

Bewegliches Suhr

Das zeigte sich auch beim Besuch des Politikers und der Politikerin aus Strassburg in Suhr. Die Elsässer waren überrascht, wie flexibel die dortige Quartierentwicklung Chancen nutzt, etwa in vorübergehend leer stehenden Gebäuden rasch gemeinschaftliche Projekte anbietet, ohne vorher jahrelang planen zu müssen. So sind es zurzeit in Suhr zwei Zwischennutzungen, die sogenannten Nachbarschaftshäuser, in welchen die Vernetzung der Bevölkerung mit zahlreichen Angeboten gefördert wird: Bei einem Anlass namens «Pasta e Basta» wird gemeinsam gekocht und gegessen, in einem Computertreff helfen Freiwillige gratis bei Computerfragen und -problemen und im «RepairCafé» wird vieles gemeinsam recycelt und geflickt – vom PC bis zum Pulli. «Letztes Mal waren über achtzig Leute da», erzählt Anna Greub. Sie ist in Suhr Soziokulturelle Animatorin und Leiterin des Pilotprojekts Quartierentwicklung, welches die Gemeinde und die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW gemeinsam ins Leben gerufen haben.

«Vernetzung passiert nicht einfach so», sagt Greub. Es brauche Begegnungsorte im öffentlichen Raum und jemanden, der die Ideen der Bevölkerung abholt. Als Soziokulturelle Animatorin ist sie dabei der Knotenpunkt – sie findet Räume für eine gemeinwohlorientierte Nutzung, vernetzt Vereine miteinander, nimmt Ideen aus der Bevölkerung auf und unterstützt sie dabei, diese zu verwirklichen.

Räumliche Hindernisse: Die südlichen Quartiere von Suhr sind durch eine Bahnlinie, grosse Strassen und Industriebauten vom Dorfkern abgetrennt. (Bild: Sidonia Codina)

Alle sollen Anschluss finden

Wie in vielen anderen Agglomerationsgemeinden ist auch in Suhr das rasche Wachstum eine Herausforderung. «Inzwischen ist die Bevölkerung auf über 10’000 Menschen angewachsen, aber die Einwohnerinnen und Einwohner sprechen noch vom ‹Dorf›», erzählt Anna Greub. Doch das «Dorf» verändert sich: Der Dorfkern wird durch Neubauten auseinandergezogen und droht, an Leben zu verlieren. Und im Süden des Ortes sind zwei Quartiere entstanden, in denen die Armutsquote höher ist als anderswo in der Gemeinde. Zudem sind diese beiden neuen Quartiere durch eine Bahnlinie und einen Industriegürtel vom Dorfkern abgeschnitten. «Das erschwert den Bewohnerinnen und Bewohnern den Anschluss», sagt Anna Greub – auch den kleinsten, denn von dort aus ist der Weg zu Kindergarten und Schule weiter und komplizierter als von den Nordquartieren. Darum arbeitet Greub zurzeit daran, die Verkehrsanbindung zu verbessern. Aber auch scheinbar einfache Massnahmen könnten helfen, erzählt sie, etwa eine organisierte Laufgemeinschaft, in der sich Erwachsene dabei abwechseln, die Kinder auf dem Weg in den Kindergarten und in die Schule zu begleiten. Die Hoffnung ist, dass dadurch künftig weniger Kinder von den Eltern zur Schule gefahren werden. «Der Schulweg ist als Lernort wichtig, diese Erfahrung wollen wir allen Kindern ermöglichen.»

Auch Suhr profitiert vom Austausch

Die Quartierentwicklerin hat selbst auch schon Inspirationen aus dem MARGE-Austausch mitgenommen. Zum Beispiel aus dem letzten Projekttreffen, in dem Fachleute aus der Elsässer Gemeinde Saverne eine Hausaufgabenhilfe vorgestellt haben. Das Besondere daran: Die Kids bekommen am selben Ort Unterstützung, wo sie auch ihre Freizeit verbringen. Etwas Ähnliches plant Anna Greub nun auch in Suhr. Im «Open House», wie der offene Spieltreff für Kinder in Suhr heisst, könnte sie sich gut eine Aufgabenhilfe als zusätzliches Angebot vorstellen. «Solche Hilfen sollten möglichst niederschwellig sein, damit wir tatsächlich die Chancengleichheit fördern.»

Im «Open House» treffen sich jeweils rund zwanzig Kinder. Sie werden von Betreuenden dabei begleitet, Neues zu entdecken und Konflikte zu lösen. (Bild: Quartierentwicklung)

Auch FHNW-Forscherin Jutta Guhl hat schon Anregungen aus Besuchen in ausländischen Quartieren mitgenommen, wie sie erzählt. Beispielsweise ist ihr der Gestaltungswille des französischen Staates im Wohnungsbau aufgefallen. Dort muss, wenn eine alte Sozialwohnung abgerissen wird, eine neue gebaut werden – aber gerade nicht im selben Quartier, sondern verpflichtend in einem andern. «Insgesamt wird dort mehr in den sozialen Wohnungsbau investiert», erklärt Guhl. Das könnten wir uns in der Schweiz zum Vorbild nehmen, meint die Soziologin. Ganz so wie im zentralistischen Frankreich kann es in der föderalistischen Schweiz natürlich nicht laufen. Aber: «Etwas mehr in diese Richtung könnten wir schon gehen.»

Was ist MARGE?

Im grenzüberschreitenden Projekt MARGE vernetzen sich Forschende und Praxisleute der Quartierentwicklung aus drei Ländern. Beteiligt sind je drei Quartiere aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz:

  • Zwei Stadtteile von Strassburg und die ebenfalls elsässische Gemeinde Saverne,
  • ein Quartier in Kehl und zwei Stadtteile von Freiburg in Deutschland,
  • das Quartier Klybeck-Kleinhüningen in Basel und die Gemeinden Pratteln und Suhr.

Die Fokusgruppen aus den Quartieren haben grenzüberschreitende Erkundungsteams zusammengestellt und ihre ausländischen Kollegen besucht. Auf Quartierbegehungen lernen die Gäste die dortigen Ansätze kennen. Zudem treffen sich die Projektteams zweimal im Jahr, stellen ihre Massnahmen und Ideen vor und lassen sich ihrerseits von der Arbeit der Kollegen inspirieren. Um die Nachhaltigkeit des Projekts zu sichern, werden die Ansätze und Methoden aus MARGE in einem Toolkit aufbereitet und so auch Kollegen aus weiteren Gemeinden zugänglich gemacht. Zudem plant die Projektleitung internationale Weiterbildungen in Form von Fachtagungen.
Getragen wird das Austauschprojekt von drei Hochschulen: der katholischen Hochschule Freiburg, der École Supérieure Européenne de l’Intervention Sociale de Strasbourg und der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW.

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