Mit Bechern in Ampelfarben zeigen die Schülerinnen und Schüler an, ob sie etwas ganz, nur teilweise oder nicht verstanden haben. (Bild: Johanna Bossart)
26. März 2019

Mit bunten Pappbechern zum Lernerfolg

Lehren und Lernen sichtbar machen – das ist das Anliegen des gleichnamigen Projekts «Lehren und Lernen sichtbar machen LLSM» der Pädagogischen Hochschule FHNW. Es unterstützt Lehrpersonen mit neuen Ansätzen dabei, das Lernen von Schülerinnen und Schülern fassbar und Lernerfolge transparent zu machen.

«Mal die Katze braun an» – die Logopädin Nora Bär spricht langsam und betont dabei jedes einzelne Wort. Sie schaut in die Runde, wo ihr zehn aufmerksame Augenpaare entgegenblicken. Die Zweit- und Drittklässler sitzen an ihren Bänken, vor ihnen liegt ein Ausmalblatt. Die Buntstifte bleiben aber erst einmal unberührt, stattdessen hält jedes Kind einen farbigen Pappbecher hoch. Im grünen Bechermeer sticht einer aus roter Pappe hervor. Das Mädchen, das ihn in die Höhe streckt, zeigt damit, dass es etwas nicht verstanden hat.

Einmal pro Woche unterrichtet Nora Bär die Klasse gemeinsam mit der Heilpädagogin Severina Oertle. Deren Schulklasse, an der GSR Sprachheilschule in Aesch BL, ist eine von mehreren, die zurzeit am Pilotprojekt «Lehren und Lernen sichtbar machen (LLSM)» teilnehmen. Insgesamt acht Schulen aus der Deutschschweiz sind seit Sommer 2018 am Programm beteiligt. Das Projekt soll drei Jahre laufen und wird von der Pädagogischen Hochschule FHNW betreut. Lernprozesse sichtbar zu machen – für Schülerinnen und Schüler wie für Lehrpersonen –, das ist das zentrale Anliegen von LLSM.

Portrait Wolfgang Beywl
«Damit die Lehrperson den Unterricht durch die Augen der Schüler sehen kann, muss Lernen sichtbar gemacht werden.»
Wolfgang Beywl, Leiter der Professur für Bildungsmanagement sowie Schul- und Personalentwicklung, Pädagogische Hochschule FHNW

«Bei uns ist praktisch der ganze Alltag visualisiert»

Dieses Anliegen sprach die Leiterin der Sprachheilschule Aesch, Claudia Sturzenegger, an. An ihrer Schule habe das Visualisieren schon immer einen hohen Stellenwert gehabt, sagt sie: «Bei uns ist sozusagen der ganze Alltag visualisiert.» Da das LLSM-Konzept als Ergänzung sehr vielversprechend sei, habe sie sich kurzerhand als Pilotschule bei der FHNW beworben. Die Teilnahme habe jedoch einige Lehrpersonen skeptisch gestimmt, da diese die Notwendigkeit nicht sofort erkannt hätten, sagt Sturzenegger. Doch spätestens nach dem Einführungsworkshop habe sich die Skepsis in Optimismus umgewandelt. «LLSM ist genau das, was wir brauchen: eine moderne Form, um die Schülerinnen und Schüler aktiv miteinzubeziehen», sagt sie.

Geschehen kann dies insbesondere durch Feedbacks der Kinder. Sichtbar gemacht werden diese etwa durch Gegenstände wie die ampelfarbigen Pappbecher. Damit können Schülerinnen und Schüler jederzeit zeigen, ob sie etwas verstanden haben (grün), nur teilweise (gelb), oder noch nicht (rot). Dieses Feedback hilft den Lehrpersonen, rasch zu erkennen, wer etwas mehr Unterstützung benötigt.

Die Lehrpersonen rufen die Kinder nach dem Zufallsprinzip anhand beschrifteter Holzstäbchen auf. Diese Methode empfinden die Schülerinnen und Schüler als fair. (Bild: Johanna Bossart)

Was denn noch unklar sei, fragt Nora Bär das Mädchen mit dem roten Becher. Dieses überlegt einen Moment und sagt dann langsam: «Was ist braun?» Nachdem ihr die Logopädin ihre Frage beantwortet hat, darf die Schülerin einen Sticker an die «Frag-nach-Wand» kleben – sie hat die Frage passend formuliert. Nachdem die Kinder einige weitere Ausmalbilder koloriert haben, ruft sie die Klassenlehrerin in den Kreis nach vorne. Auf einer digitalen Wandtafel erscheint ein Kinderbuchcover mit dem Titel «Lindbergh». Oertle hält einen Becher gefüllt mit Glacestäbchen in der Hand – auf jedem steht der Name eines Kindes. Wahllos zieht sie eines der Hölzchen – Gabriel ist an der Reihe. «Wer kommt in der Geschichte vor?» «Die Maus Iris», antwortet Gabriel. Das nächste Kind wird gezogen: «Colin? Was hat Iris für Abenteuer erlebt?»

«Für die Lehrpersonen ist es ein wichtiges Feedbackinstrument, um die eigene Handlung im Unterricht zu reflektieren.»
Claudia Sturzenegger, Leiterin GSR Sprachheilschule

Lernkonzept aus Neuseeland importiert

Glacestäbchen liegen auch bei Wolfgang Beywl, Begründer des Pilotprojekts, auf dem Pult. Er leitet die Professur Bildungsmanagement sowie Schul- und Personalentwicklung an der Pädagogischen Hochschule FHNW in Brugg-Windisch. Wie die bunten Becher erfüllen auch die Holzstäbchen eine spezifische Aufgabe im LLSM-Unterrichtsalltag – sie sorgen für Fairness. Denn statt nur die Kinder aufzurufen, die sich melden, oder die schweigenden herauszupicken, wird nach dem Zufallsprinzip aufgerufen. «Das geht schnell und man überzeugt die Kinder damit», sagt Beywl.

Die Schülerinnen und Schüler geben ihr direktes Feedback zum Unterricht. (Bild: Johanna Bossart)

Das Konzept LLSM geht auf den neuseeländischen Erziehungswissenschaftler John Hattie zurück. Dieser wollte herausfinden, welche Lehrmethoden sich am besten auf das Lernen auswirken. Insgesamt 90‘000 Studien zum Thema trug Hattie zusammen. Darin involviert waren 300 Millionen Schülerinnen und Schüler aus der ganzen Welt. Die Erkenntnisse fasste der Wissenschaftler im Buch «Visible Learning» zusammen, das in der ersten Auflage 2009 erschien. Als Beywl sich mit Hatties Werk beschäftigte, beschloss er, es ins Deutsche zu übersetzen und so die Ideen in Schweizer Schulen zu bringen.

«Es ist nicht immer einfach, den Lernstand der Kinder zu erkennen. Durch LLSM können wir als Lehrpersonen trotzdem schnell und einfach an diese Informationen kommen.»
Larissa Scheding, Fachlehrerin Gestalten

Lernfeedbacks mit hohem Potenzial

Aus Hatties Studienergebnissen gehen 250 Faktoren hervor, die das Lernen mehr oder weniger stark – sowohl positiv als auch negativ – beeinflussen können. So werden neben Faktoren aus den Bereichen Lehrperson, Schulzimmer oder Lehrpläne auch das Zuhause und das soziale Umfeld der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt. Wie die Einflussfaktoren wirken, ist komplex. Laut Beywl gibt es dabei einiges, was neu und überraschend für die Lehrpersonen ist. Während häufig gegebenes Lob wenig effektiv sei, habe das Unterrichtsfeedback mittels bunter Becher oder Feedbackzettel ein besonders hohes Potenzial für den Lernfortschritt der Schüler.

Bald beginnt die Zehnuhrpause. Es kommt Leben in die Klasse, als die Kinder die Erzählrunde verlassen und zurück an ihre Tische gehen. Bald darauf hört man das Krakeln von zehn Farbstiftminen. Die Schülerinnen und Schüler sollen ein Feedback zu den Aufgaben der letzten Lektion geben. Haben sie dem Unterricht folgen können, war der Stoff klar? Nur bei wenigen ist das Feedbackfeld rot oder gelb. Die meisten haben es grün ausgemalt.

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