Vertraute Worte für einen guten Schulstart
Wie können Lehrpersonen die schulischen Fähigkeiten von Kindern mit Migrationshintergrund einschätzen, wenn sie noch keine gemeinsame Sprache sprechen? Ursula Ritzau von der Pädagogischen Hochschule FHNW erzählt im Interview, wie ein Aufgabenset in 26 Sprachen die Sprachlücke überbrückt – damit den Kindern und Jugendlichen hier in der Schweiz ein guter Start in der Schule gelingt.
Da stiesse sie wahrscheinlich an ihre Grenzen. Der Sprachenvielfalt in Schulklassen muss man also auf andere Weise gerecht werden. Die neu zugezogenen Kinder lernen eine Landessprache. Doch in der Einstiegsphase wäre es für die Lehrpersonen tatsächlich hilfreich, wenn sie einfach nur herausfinden könnten, wie die schulischen Fähigkeiten eines Kindes waren, bevor es in die Schweiz kam. Dafür haben wir ein Instrument entwickelt. Es heisst ESKE, was für Ermittlung schulsprachlicher Kompetenzen in der Erstsprache steht. Das klingt kompliziert, doch im Grunde geht es darum: Kann ein Kind in seiner ersten Schulsprache zum Beispiel eine Bildergeschichte erzählen? Kann es einen Text lesen und dazu Fragen beantworten? Die erste Schulsprache ist nicht unbedingt die Sprache, welche das Kind von klein auf gelernt hat, aber jene Sprache, in der es früher schon unterrichtet wurde.
ESKE ist eine Sammlung von Schulaufgaben in 26 Sprachen. Es enthält wie ein Schulbuch kleine Texte, Geschichten, Bilder und Rätsel. Die Aufgaben sind in jeder Sprache dieselben. Dieses Konzept hat den Vorteil, dass wir die Inhalte auf den Lehrplan 21 abstimmen konnten. Zudem können die Lehrpersonen genau nachvollziehen, worum es in den einzelnen Aufgaben geht, weil alle Fragen, Antworten und Beschreibungen auch auf Deutsch vorliegen.
Wir hatten in sechs Kantonen eine Umfrage gemacht. Die 18 Sprachen, welche für die Lehrpersonen am relevantesten waren, haben wir aufgegriffen. Darunter waren beispielsweise Tamil und Paschtu, aber auch Englisch und Italienisch. Später sind fünf weitere Sprachen hinzugekommen. Und ab Ende 2020 werden neu auch Russisch, Mazedonisch und Persisch verfügbar sein.
Für jede dieser Sprachen brauchten wir eine Sprachexpertin oder einen Sprachexperten. Sie haben alles aus dem Deutschen übersetzt. Davor haben sie uns beraten, ob die Aufgaben in ihrer Sprache und dem zugehörigen kulturellen Kontext verständlich sind. Einmal hatten wir beispielsweise einen Zugfahrplan eingebaut. Da erhielten wir die Rückmeldung, dass nicht in allen Ländern Züge fahren. Und wenn stattdessen Busse fahren, sind diese nicht unbedingt nach Fahrplan unterwegs, sondern einfach, wenn sie voll sind. Deshalb haben wir den Zugfahrplan durch einen Stundenplan ersetzt. Der ist allen Schulkindern bekannt.
ESKE ist unterteilt in vier Aufgabensets, die dem ersten bis dritten Zyklus des Lehrplans 21 entsprechen. Das heisst, sie umfassen Fähigkeiten, die Kinder und Jugendliche in null bis neun Jahren Schulunterricht erwerben.
Wir haben ESKE zunächst in zwei Bereichen getestet: Einerseits auf Französisch, in sogenannten Französischateliers für Primarschulkinder in Basel. Und andererseits mit Migrantinnen und Migranten in Basel-Land, die Klassen zur Vorbereitung einer Berufslehre besuchten. Die Erstsprachen dieser jungen Menschen waren zum Beispiel Dari oder Tigrinya, das sind Sprachen aus Afghanistan beziehungsweise Ostafrika. Einige der Migrantinnen und Migranten haben uns freudige Rückmeldungen gegeben: Es war eine schöne Erfahrung für sie, einmal wieder Aufgaben in ihrer Erstsprache zu lösen.
Inzwischen steht ESKE im Internet gratis zum Download bereit. Zur Einführung habe ich in verschiedenen Kantonen Workshops für Lehrpersonen durchgeführt und derzeit analysieren wir in einer Studie, wie die Aufgabensammlung genutzt wird. Lehrpersonen für Heilpädagogik sowie Deutsch als Zweitsprache haben mir berichtet, dass sie das Instrument gern verwenden. Sie schätzen die Sprach- und Aufgabenvielfalt und ebenso, dass es online frei verfügbar ist.
Unsere vielsprachige Aufgabensammlung ist dann hilfreich, wenn eine Schülerin oder ein Schüler erst kürzlich in die Schweiz gekommen ist. ESKE dient aber nicht der Einstufung in eine Klassenstufe, denn dafür sind andere Faktoren wie etwa das Alter ausschlaggebend. Ich würde empfehlen, dass nicht allzu viele Erwachsene im Raum sind, wenn das Kind die Aufgaben löst. Also eine oder zwei Lehrpersonen und eine Dolmetscherin oder ein Dolmetscher. Die bisherigen Rückmeldungen bestätigen, dass das Resultat aussagekräftiger ist, wenn jemand Sprachkundiges zum Dolmetschen dabei ist. Eine angenehme Atmosphäre ist ebenfalls wichtig. Es soll für das Kind keine Testsituation sein, sondern eher eine Gelegenheit zu zeigen, was er oder sie schon kann.
Ich kann mir gut vorstellen, dass noch weitere Sprachen hinzukommen. Zudem erfasst ESKE vor allem schriftsprachliche Kompetenzen, weshalb Kolleginnen und Kollegen jetzt auch Aufgaben in Mathematik entwickeln und testen. Wünschenswert wäre, dass man das gesamte Instrument, inklusive Anleitungen und Beurteilungsraster, noch auf Französisch übersetzt. So könnte ESKE künftig auch in der Romandie verwendet werden.