Zwei Personen sitzen an einem Tisch und lesen gemeinsam in einem Dokument
Forschende der PH FHNW untersuchen, wie sich Resilienz bei Jugendlichen in der Schule gezielt fördern lässt. Foto: Patrick Kälin
26. März 2024

Das resiliente Klassenzimmer

Jedes fünfte Kind in der Schweiz erlebt elterliche Gewalt, unabhängig von Herkunft und sozioökonomischem Status. Ganz in der Mitte unserer Gesellschaft also. Trotzdem gelingt es manchen, ein erfolgreiches und erfülltes Leben zu führen. Die Gründe dafür und wie dies bereits in der Schule gezielt gefördert werden kann, untersucht ein Team der Pädagogischen Hochschule FHNW in seiner Resilienzforschung.

Resilienz ist mehr als nur ein moderner Trend zur Selbstoptimierung. «Sie ist eine typische menschliche Eigenschaft, die schon immer wichtig war, um mit Krisen und belastenden Situationen umzugehen», erklärt Wassilis Kassis, Professor für pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule FHNW. Kassis forscht seit über 20 Jahren zum Thema Resilienz und hat mit seinem Team mehrere Tausend Schüler*innen, Eltern und Lehrpersonen in Studien begleitet. Er räumt mit dem Anspruch auf Selbstoptimierung auf: «Bei Resilienz geht es nicht, wie oft behauptet, im Kern um individuelle Kompetenzen. Es geht um die Fähigkeit eines ganzen Systems, eines sozialen Umfelds, das es den Einzelnen überhaupt erst ermöglicht, Krisen gut zu bewältigen und sich zu schützen.»

Wichtig dabei sei, dass man erst von Resilienz sprechen könne, wenn die Krise bereits eingetroffen ist. «Es muss zuerst eine enorme Belastung vorliegen, zum Beispiel häusliche Gewalt», erklärt Kassis, «und trotzdem kann ein hochbelastetes Kind ein selbstbestimmtes Leben führen.» Dafür benötigt es ein resilientes Umfeld. Das bedeutet einerseits gute Freunde, aber auch ein positives Schulumfeld.

«Als Forschende ist es unsere Pflicht, unsere Erkenntnisse zu nutzen, um die Situation zu verbessern.»
Wassilis Kassis, Professor für pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule FHNW

«Es ist immens wichtig, dass ein Kind in der Klasse sowohl fachlich gefordert als auch als Mensch akzeptiert und anerkannt wird», betont der Forscher. Nur so könnten Kinder eine hohe Selbstwirksamkeit entwickeln und resilient werden. «Dieser Zusammenhang lässt sich anhand von Studien sehr deutlich aufzeigen und sollte auch von der Sozial- und Bildungspolitik aufgenommen werden», sagt Kassis. «Resilienzforschung erlaubt uns auch einen positiven Blick auf die Schule, damit wir die Potenziale von Schüler*innen und Lehrpersonen sowohl erkennen können wie auch zu fördern lernen.»

«Pädagogische Lawinenüberbauungen»

Doch wie kann man ein «resilientes Klassenzimmer» schaffen? «Kinder und Jugendliche müssen wissen, dass sie von ihrem Umfeld gehalten und unterstützt werden», erklärt Kassis, «denn sie sind durch ihren Entwicklungsstand besonders verletzlich.» Es gehe darum, sowohl Schutzfaktoren aufzubauen als auch Risikofaktoren zu reduzieren. In einer aufgeklärten Klasse ist dies eher möglich.

Jugendliche haben in der Schule viele Herausforderungen zu meistern. In einem resilienten Umfeld werden sie fachlich gefordert und menschlich gefördert. Foto: Patrick Kälin

Lehrpersonen spielen dabei eine zentrale Rolle, insbesondere wenn sie im Erkennen und Umgang mit psychischen Problemen geschult sind. In der Schweiz zeigen etwa 40 Prozent der Jugendlichen deutliche Depressionssymptome oder leiden unter Angstzuständen. «An unserer Pädagogischen Hochschule sensibilisieren wir die Studierenden, und somit die angehenden Lehrpersonen, darauf. Sie müssen wissen, wie sie die ersten Anzeichen erkennen und was sie dann tun müssen», sagt Kassis. «Pädagogische Lawinenüberbauungen» nennt er dies. So sei zum Beispiel bekannt, dass oftmals die stillen Schülerinnen und Schüler die umfangreicheren Probleme haben, nicht die lauten. Wenn das Lehrpersonal sich dessen bewusst ist, kann es gezielt auf solche Kinder achten und sie mit einbinden. Deswegen ist Kassis froh, dass diese Forschung erfolgreich in die Lehre und Weiterbildung der Pädagogischen Hochschule einfliesst und damit praxiswirksam wird.

«Resilienz kann nicht nur erlernt, sondern auch wieder verlernt werden.»
Wassilis Kassis

Forschungslabor, Klassenzimmer, Politik

Doch nicht einzig Lehrpersonen sind gefordert. Um ein resilientes System zu schaffen, ist die ganze Schulklasse gefragt. Deshalb entwickelt das Team der FHNW jetzt Videos, um 15- bis 18-Jährige für das Thema zu sensibilisieren. Dafür arbeiten die Forschenden mit Jugendlichen aus der ganzen Schweiz zusammen. «Wir gehen in unterschiedliche Schulstufen und Klassen», so Kassis, «denn wir wollen wissen, wie ein Video aussehen muss, das die Jugendlichen berührt und zu einer unterstützenden Handlung motiviert. Denn sie sind Teil der Lösung.» Für Eltern und Lehrpersonen hat Kassis’ Team schon Videos produziert.

Professor Wassilis Kassis leitet das Institut Forschung und Entwicklung der Pädagogischen Hochschule FHNW.

Die Bemühungen von Kassis sowie den Forscherinnen Dilan Aksoy und Céline Anne Favre aus seinem Team gehen über das Klassenzimmer hinaus und schliessen politisches Engagement ein. Die Forschenden weisen darauf hin, dass die Resilienz von Lehrpersonen und Schulen oft von den verfügbaren Ressourcen abhängt. Ein Mangel an Ressourcen führt manchmal dazu, dass Lehrpersonen sich auf Wissensvermittlung beschränken müssen. Für die komplexen Probleme der einzelnen Kinder gebe es so keine Kapazität. «Ein erfolgreich resilientes System ist leider manchmal auch eine Budgetfrage», gibt Kassis zu bedenken. Dabei können die Kosten für die Gesellschaft enorm sein, wenn traumatisierte Jugendliche nicht rehabilitiert und Risiken nicht reduziert werden. Demgegenüber haben die vom Schweizerischen Nationalfonds SNF geförderten Forschungen von Kassis‘ Team gezeigt, dass die Investition in Resilienz eine lohnende Investition in die Zukunft ist: «Jeder Franken, der in Resilienz investiert wird, zahlt sich mehrfach aus.» So kann die Resilienzquote in einer Klasse um 10 bis 20 Prozent verbessert werden, wenn die Lehrperson in der Lage ist, die Schülerinnen und Schüler fachlich zu unterstützen und sie persönlich zu fordern und zu fördern.» Dabei ist die Entwicklung von Resilienz ein sehr dynamischer Prozess. «Resilienz kann nicht nur erlernt, sondern auch wieder verlernt werden», betont Kassis. «Wenn wir die Kontrolle von Risiko- und Schutzfaktoren nicht weiter und aktiv vorantreiben, schmilzt die Resilienz dahin. Deshalb müssen wir uns fragen: Wie lange und wie stark wirkt eine Belastung und wie können wir sowohl Belastungen reduzieren wie auch Schutzfaktoren erweitern?»

Abschlusskonferenz

Die Abschlusskonferenz «Förderung sozio-emotionaler Kompetenzen: Zur Brücke zwischen Schule und Wissenschaft» zu den SNF-Projekten «School resilience» und «Social resilience» findet am 23. und 24. Oktober 2024 am FHNW Campus Brugg-Windisch statt.

Videos zum Thema Resilienz für Eltern und Lehrer*innen sind unter diesen Links zu finden:

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