Dialogisches Lesen, bei dem die Kinder zum Mitreden angeregt werden, fördert die Sprachentwicklung und kann helfen, sprachliche Rückstände zu reduzieren. (Bild: FatCamera)
19. Juni 2018

Lernen durch Mitreden

Dialogisches Lesen regt Kleinkinder zum Reden an und verbessert so ihre sprachlichen Fähigkeiten. Diese andere Art des Vorlesens in Kindergärten und Spielgruppen zu verankern, hat sich ein Projekt der Pädagogischen Hochschule FHNW zum Ziel gemacht.

Ein Kind entdeckt auf den bunten Seiten des Bilderbuches ein vertrautes Tier: «Hund!», ruft es freudig aus. «Ja, das ist ein Hund. Hast du auch ein Haustier?», entgegnet die Kindergärtnerin. So könnte es klingen, wenn in Kindergärten, Spielgruppen oder auch zu Hause dialogisch gelesen wird. Beim dialogischen Lesen ist das Kind nicht nur Zuhörerin oder Zuhörer. Es wird dazu ermuntert, sich aktiv zu beteiligen, Fragen zu stellen und selber aus seiner Lebenswelt zu erzählen. Dieser Dialog mit Erwachsenen soll sich langfristig positiv auf die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder auswirken und das Interesse für Sprache wecken. Das kann entscheidend sein für die schulische Laufbahn eines Kindes. Bereits in den 1980er-Jahren haben Studien aus England und den USA gezeigt, dass Kinder, die bereits im frühen Alter sprachlich einen Rückstand auf ihre Altersgenossen haben, diesen ohne spezielle Förderung bis in die Schulzeit nicht mehr aufholen. Heutzutage trifft dies oftmals Kinder mit Migrationshintergrund, die Deutsch als Zweitsprache lernen und mit ihren sprachlichen Fähigkeiten hinter ihren gleichaltrigen Gspänli nachhinken. Damit sie bis zum Schuleintritt aufgeholt haben, bedarf es in vielen Fällen besonderer Unterstützung, beispielsweise in Form von dialogischem Lesen.

Grosse Nachfrage nach Kursangebot

Darum soll in Schweizer Kindergärten, Spielgruppen und Kinderzimmern mehr dialogisch gelesen werden. Dies hat sich ein Team der Pädagogischen Hochschule FHNW zum Ziel gesetzt. In Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) wurden zwei Pilotprojekte ins Leben gerufen: DiaLes und DiaLes Kiga. Dafür entwickelten die Forschenden eine Weiterbildung, die pädagogischen Fachpersonen das Wissen vermittelt, wie sie mit ihren Schützlingen dialogisch lesen. Der Kurs für Kindergartenlehrerinnen und -lehrer beinhaltet zusätzlich einen Eltern-Kind-Anlass, bei welchem eine Leseanimatorin für alle dialogisch vorliest. «Wir versuchen damit, auch die Eltern ins Boot zu holen», sagt Silvana Kappeler Suter, Leiterin der Projekte. «Wir wollen sie dazu ermutigen, beim Vorlesen mal etwas anderes auszuprobieren.»

Das Interesse an den Weiterbildungskursen sei gross, sagt Kappeler Suter: «Schon bisher gehörte Vorlesen zum Alltag in Kindergärten und Tagesstätten. Beim dialogischen Lesen ist bloss das Vorgehen etwas anders.» Die Rückmeldungen zur Weiterbildung seien durchwegs positiv, deshalb werden sie auch in Zukunft weiterhin angeboten.

Verschiedene Strategien des dialogischen Lesens

Es gibt verschiedene Strategien, mit denen man Kinder beim Lesen zum Sprechen animieren kann. Eine davon ist, dem Kind Fragen zu stellen, zum Beispiel, was es auf einem Bild alles erkennen kann oder ob es sich noch an bestimmte Dinge erinnert, die vorher in der Geschichte passiert sind. Die erwachsene Person kann auch eine Lücke am Ende eines Satzes lassen und das Kind dazu auffordern, das fehlende Wort zu finden. Diese Strategie nennt sich «Komplettierung». Bei der Strategie «Verknüpfung» werden dem Kind Fragen gestellt, welche Geschehnisse aus dem Buch mit Erlebnissen des Kindes verknüpfen sollen. Wie zum Beispiel: «Hast du auch ein Haustier?» Bei der Strategie «Nähe» thematisiert die erwachsene Person Dinge oder Handlungen, die auf den Bildern zu sehen sind. Bei der Strategie «Abstand» geht es hingegen darum, dass sich das Kind auf etwas konzentriert, das sich nicht in unmittelbarer Nähe befindet. Es muss also etwas aus seinem Gedächtnis abrufen, beispielsweise, ob es müde ist, wenn es abends ins Bett muss.

«Die meisten Kinder haben ein grosses Mitteilungsbedürfnis.»
Silvana Kappeler Suter, Pädagogische Hochschule FHNW

Kinder reden gerne

Das dialogische Lesen hilft zwar allen Kindern dabei, ihre Sprach- und Sprechfähigkeiten zu verbessern, besonders gross ist der Nutzen aber für jene, bei denen zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird. Denn durch das Wiederholen und Erweitern ihrer Äusserungen lernen sie neue Worte und grammatikalische Strukturen einfacher. Ausserdem haben Studien gezeigt, dass die Verknüpfung von gehörter und gesprochener Sprache mit visuellen Elementen, also zum Beispiel Bildern, den Erwerb einer Fremdsprache erleichtert. Somit kann dialogisches Lesen ein Mittel sein, um die Chancengleichheit zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund zur fördern. 

Obwohl die Kinder beim dialogischen Lesen sprachlich mehr profitieren, soll es nicht das klassische Vorlesen verdrängen. Den Kindern scheint die neue Art des Vorlesens aber zu gefallen, wie Kappeler Suter beobachtet: «Die meisten Kinder haben ein grosses Mitteilungsbedürfnis und es macht ihnen Spass, aus ihrem Leben zu erzählen.» Anfangs brauche es nur etwas Zeit, bis sich die Kleinen daran gewöhnen, dass sie nicht mehr nur Zuhörer sind. Wer zu Hause mit seinen Kindern dialogisch lesen möchte, muss dafür nicht neue Bücher anschaffen. Dialogisch lesen lässt es sich grundsätzlich mit jedem Buch, solange es altersgerecht ist, damit das Kind weder über- noch unterfordert wird. Liest man mit Kindern, die Deutsch als Zweitsprache lernen, eignen sich Bücher mit wenig Text, bei denen die Bilder einen grossen Teil des Inhaltes darstellen. Besonders wichtig bei der Auswahl des Buches sei, dass das Thema das Kind auch wirklich interessiert. «Mit einem Kind, das sich nicht für Tiere interessiert, kann man kein Gespräch über eine Tiergeschichte führen», sagt Kappeler Suter. Zudem müsse man sich überlegen, ob das Buch sogenannte Sprechanlässe bietet, bei denen man die kleinen Zuhörer in ein Gespräch verwickeln kann. 

Zusätzlich zu den Kursen hat das Team um Silvana Kappeler Suter auch eine Website und einen ausführlichen Leitfaden erstellt, der die Grundlagen des dialogischen Lesens erklärt und konkrete Hinweise zur Durchführung und Gestaltung gibt. Finanziell unterstützt wurde DiaLes von der Stiftung Mercator Schweiz, der Sophie und Karl Binding Stiftung sowie Migros Kulturprozent. DiaLes Kiga erhielt Gelder vom Bundesamt für Kultur, der Paul Schiller Stiftung und der Credit Suisse Foundation.

Schlecht lesen können verursacht Stress

In der Schweiz haben rund 800 000 der 16- bis 65-Jährigen Schwierigkeiten, selbst sehr einfache Texte zu verstehen. Das zeigt eine Studie des Bundesamts für Statistik aus dem Jahre 2006. Beim sogenannten Illetrismus verfügen Erwachsene über unzureichende Fähigkeiten im Lesen und Schreiben, obwohl sie die obligatorische Schulzeit absolviert haben. Ursache für solch eine Schwäche ist meist das Zusammenkommen mehrerer ungünstiger Faktoren, wie eine nicht erkannte Sehschwäche, familiäre Probleme oder Konzentrationsschwierigkeiten. Betroffene sind beruflich und finanziell benachteiligt. Zudem sind sie nicht nur von gewissen Bereichen des Lebens ausgeschlossen, sondern stehen häufig unter Dauerstress, da sie stets bemüht sind, ihr Defizit zu verbergen.

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