Philippe Corvini von der Hochschule für Life Sciences FHNW.
8. Juni 2021

Neue Karriere für krummes Gemüse

Ein buckliges Rüebli, ein schiefgewachsener Rettich, zu kleine Bohnen – wenn Lebensmittel nicht schön genug aussehen oder den Standards nicht entsprechen, landen sie allzu oft im Abfall. Philippe Corvini von der Hochschule für Life Sciences FHNW verhilft dem andersartigen Gemüse sowie weniger schönen Früchten und Pilzen zu neuem Wert.

Herr Corvini, Sie möchten Foodwaste, die Verschwendung von Lebensmitteln, reduzieren. Was treibt Sie an?

In unserer Gesellschaft kommen viele der produzierten Lebensmittel überhaupt nie in die Läden oder auf die Märkte. Sie werden schon vorher aussortiert, weil sie nicht den Normen entsprechen. Zum Beispiel dürfen Gurken nicht zu krumm sein, und Bananen dürfen wiederum nicht zu gerade sein. Aufgrund dieser Schönheitsstandards wird etwa ein Zehntel aller produzierten Lebensmittel als Abfall klassifiziert.

Was passiert mit diesen Lebensmitteln?

Sie werden weggeworfen, kompostiert oder landen in der Biogasanlage. Das Problem liegt schon in dem Begriff «Abfall». Davon müssen wir uns trennen, denn diese Lebensmittel sind kein Abfall, sie sind einfach Nebenprodukte der Lebensmittelherstellung. Die zusammengewachsenen Tomaten, die zu kleinen Kartoffeln und andere nicht normgerechte Exemplare sehen zwar oft nicht so schön aus, aber sie sind sehr wohl essbar und ihre Nährwerte sind genauso gut. Unser Ziel ist es, sie zu verwerten, anstatt sie ungenutzt wegzuwerfen. Dank der Förderung durch ein Konsortium der biobasierten Industrien und der EU im Rahmen des EU Horizon 2020 Programms arbeiten wir daran, verschiedene Nährstoffe aus den Lebensmitteln zu gewinnen.

«Etwa ein Zehntel aller produzierten Lebensmittel wird als Abfall klassifiziert.»
Philippe Corvini, Hochschule für Life Sciences FHNW
Mit welchem Gemüse oder welchen anderen Nahrungsmitteln arbeiten Sie und was machen Sie daraus?

Besonders gefragt sind pflanzliche Proteine, sowohl für die körperbewusste als auch die vegane Ernährung. Sie werden über Extraktionsverfahren aus Kichererbsen und Erbsen gewonnen. Diese Gemüse haben einen hohen Eiweissanteil. Die nicht normgerechten Exemplare dienen als Ausgangsmaterial, das gewaschen und zerkleinert wird, bevor dann mittels Säuren die Proteine daraus gewonnen werden. An der FHNW forschen wir daran, diesen Prozess effizienter zu machen, indem wir Verdauungsenzyme zugeben. Das gewonnene Eiweiss wird gefriergetrocknet und kann dann zu veganen Lebensmitteln, Proteinbrot oder Proteinriegeln verarbeitet werden. Mithilfe dieses Verfahrens können wir die Umweltbilanz der erzeugten Lebensmittel stark verbessern, weil in der Herstellung weniger Lebensmittel weggeworfen werden und die Produkte so mit einem Mehrwert produziert werden können.

Grüne Bohnen und Erbsen sehen nicht immer schön aus. Trotzdem enthalten sie wertvolle Nährstoffe, die das Forschenden-Team nutzen will.
Die Wiederverwertung der nicht normgerechten Exemplare kommt also immer anderen Ernährungsprodukten zugute?

Nicht nur, denn wir arbeiten auch an neuartigen Verpackungsmaterialien. Die Industrie sucht grüne Lösungen für ihre Verpackungen. Ein vielversprechendes Beispiel ist die sogenannte Silberhaut, die während der Röstung von Kaffeebohnen entsteht. Das ist wie eine kleine Hülle um die Kaffeebohnen. Wenn man diese silberne Haut mit Biopolymeren mischt, lassen sich daraus biologisch abbaubare Kapseln für Kapselkaffee herstellen.

Zudem gewinnen wir auch Ausgangsstoffe für die Herstellung von Kosmetika. So enthalten Pilze, wie etwa Shiitake, viele Substanzen, die die Zellalterung oder das Bakterienwachstum aufhalten können. Wenn wir diese extrahieren, können wir Cremes haltbarer und wirksamer machen.

Wie gehen Sie mit Schwermetall, Pestiziden oder anderen Verunreinigungen um, die im Ausgangsmaterial vorhanden sein können?

Darüber haben wir uns von Anfang an Gedanken gemacht. Wir testen das Ausgangsmaterial gründlich auf solche Verunreinigungen, sobald es bei uns ankommt. Dann wird das von uns hergestellte Produkt nochmals genau untersucht. Und auch das Endprodukt aus der Lebensmittelindustrie, also beispielsweise das Proteinbrot oder die Creme, unterliegt natürlich genauen gesetzlichen Vorschriften, die jederzeit eingehalten werden müssen.

«Unsere Lebensmittel enthalten unzählige verschiedene Nährstoffe, und davon sollten wir möglichst viele möglichst gut verwerten.»
Wie sehen Sie die Zukunft der Lebensmittelproduktion?

Natürlich ist es wichtig, Abfall so weit wie möglich zu vermeiden. Ich denke da zum Beispiel an Rüebli oder Kartoffeln, die nicht unbedingt geschält werden müssen, zumindest, wenn sie aus biologischer Landwirtschaft kommen. Aber auch die anfallenden Nebenprodukte können weiterverwendet werden. Unsere Lebensmittel enthalten unzählige verschiedene Nährstoffe, und davon sollten wir möglichst viele möglichst gut verwerten. Wir versuchen deshalb eine sogenannte Kaskadennutzung aufzubauen. Dabei werden nacheinander verschiedene Nährstoffe aus dem Ausgangsmaterial gewonnen.

Bei der Röstung von Kaffeebohnen löst sich die Silberhaut von den Bohnen ab. Statt diese wegzuwerfen, kann man sie weiterverwerten: zur Herstellung biologisch abbaubarer Kaffeekapseln.
Welche Vorteile hat diese Kaskadennutzung?

Sie bietet zusätzliche Einnahmequellen für die Lebensmittelindustrie, die damit Abfälle vermeiden und gleichzeitig viele unterschiedliche Produkte zusätzlich herstellen kann. Um beim Beispiel mit den Pilzen zu bleiben, wäre in Zukunft folgender Prozess denkbar: Wir extrahieren zuerst das Protein, das wir für die Nahrungsmittel verwenden können. Aus dem restlichen Material wird Chitosan gewonnen, das fettbindend ist und als Schlankheitsmittel eingesetzt wird. Was übrig bleibt, nutzt man für die Herstellung von Flavonoiden. Sie sind in vielen Nahrungsergänzungsmitteln enthalten und wirken unter anderem entzündungshemmend und blutdrucksenkend. Im nächsten Schritt kann man die Nahrungsfasern gewinnen, die als Ballaststoffe eine wichtige Rolle in der Ernährung spielen. Die Biomasse, die dann noch übrig bleibt, kann in einer Biogasanlage in Energie umgewandelt werden. Und die Energie kann wiederum für alle diese Aufreinigungsschritte genutzt werden. Solche Energie- und Stoffkreisläufe werden in Zukunft eine grosse Rolle spielen, um die Ernährung der vielen Menschen auf unserem Planeten auf nachhaltige und umweltverträgliche Weise sicherzustellen.

Mehr Informationen zum Projekt gibt es auf der Seite der Hochschule für Life Sciences FHNW sowie unter http://www.prolific-project.eu

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