Politik spielen im Bundeshaus
Für eine funktionierende Demokratie ist politische Bildung essenziell. Statt das schweizerische Politiksystem nur in der Schule erklärt zu bekommen, können es Jugendliche durch das Projekt «SpielPolitik» selbst erleben. Während zweier Tage in Bern schlüpfen jeweils drei bis vier Oberstufenklassen in die Rolle von Nationalrät*innen und spielen den Beratungs- und Beschlussfassungsprozess des nationalen Parlaments anhand von selbst konzipierten Volksinitiativen durch. Den Höhepunkt des Spiels bildet die Schlusssession, die – ganz realistisch – im Nationalratssaal stattfindet.
Die Aufregung ist ihnen nicht anzusehen. Souverän stehen Federica und ihre zwei Mitschülerinnen aus Le Mont-sur-Lausanne ganz vorne im Nationalratssaal. Gleich werden die drei Achtklässlerinnen das Wort an den Nationalrat richten. Dieser besteht heute jedoch nicht aus Schweizer Parlamentarier*innen, sondern aus drei Schulklassen.
«Die Nationalratssession im Bundeshaus ist der Abschluss einer mehrmonatigen Vorbereitungszeit im Rahmen des Projekts ‹SpielPolitik!›», erklärt die Spielleiterin Liliane Wenger. Die Erziehungswissenschaftlerin arbeitet am Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der Pädagogischen Hochschule FHNW und ist begeistert vom Projekt. «Es ist eine einmalige Chance für die Schülerinnen: Sie erleben aktiv den parlamentarischen Prozess – mit allen nötigen Schritten.» So haben die Klassen jeweils eine fiktive Partei gegründet, ein Parteiprogramm ausgearbeitet, eine Volksinitiative entworfen und gemeinsam Debattieren geübt. Nun schlüpfen die Jugendlichen während zweier Projekttage in Bern in die Rolle von Nationalrät*innen und beraten über ihre Initiativen: «Ja zur Reduzierung der Lichtverschmutzung!», «Schluss mit Plastik!» und «100 km/h auf den Autobahnen».
Starke Argumente für den Klimaschutz
Das Projekt «SpielPolitik!» ist eine Zusammenarbeit zwischen dem Verein «Schulen nach Bern» und dem Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), das unter anderem von der FHNW getragen wird. Es wird fünfmal im Jahr mit Klassen aus jeweils zwei Sprachregionen durchgeführt. «So lernen die Schüler*innen, dass zur nationalen Politik in der Schweiz auch die Verständigung zwischen den vier Sprachregionen gehört», sagt Wenger.
Immer wieder geht es in den Initiativen der Jugendlichen um Umweltthemen. Schülerin Federica erzählt: «Das Thema für unsere Initiative ‹100 km/h auf den Autobahnen› haben wir gewählt, weil man darüber gut debattieren kann. Schon im Unterricht haben wir versucht, Argumente für die Initiative, aber auch mögliche Gegenargumente zu finden. Im Laufe der Debatte haben wir dann aber gemerkt, dass die Idee richtig gut ist.» In Bern haben die drei Schulklassen dann am Tag vor der grossen Nationalratssession intensiv über die drei Initiativen diskutiert: In Kommissionen haben sie die Initiativen im Detail besprochen und daraufhin in Fraktionssitzungen den Standpunkt ihrer Fraktion ausgehandelt.
Gut vorbereitet zur Nationalratssession
Die Initiantinnen von «100 km/h auf den Autobahnen» sind sich sicher: Die verringerten Lärm- und Abgasemissionen wären gut für die Gesundheit der Bevölkerung und auch der Beitrag für den Klimaschutz sei nicht zu unterschätzen. Mit der neuen Regelung liessen sich zudem ca. 560 Millionen Franken pro Jahr einsparen – durchschnittlich 70 Franken pro Haushalt. Auch der Verkehrsfluss würde sich durch die Verlangsamung verbessern und die Anzahl und der Schweregrad von Unfällen würde sinken. Die durchschnittliche Schweizerin verlöre durch die langsamere Geschwindigkeit nur circa drei Minuten pro Tag, das sei vertretbar.
Während der «SpielPolitik!»-Sessionssitzung im Nationalratssaal bringen die drei Schülerinnen der verantwortlichen Fraktion ihre Argumente auf den Punkt. «Erstens erlaubt die Initiative, CO2 einzusparen», wendet sich eine der Schülerinnen an den «SpielPolitik!»-Nationalrat. «Die Einsparungen sind zwar gering, aber in der Klimakrise, in der wir uns befinden, machen auch kleine Veränderungen einen Unterschied. Wer denkt, dass wir jetzt nichts tun müssen, wird das vor den künftigen Generationen rechtfertigen müssen.» Die Nationalrät*innen klatschen. Stilsicher und professionell haben Federica und ihre Mitschülerinnen den Standpunkt ihrer Fraktion dargelegt. Doch wird das reichen?
Gegenwind im Bundeshaus
Die Nationalrät*innen aus den anderen Fraktionen bleiben skeptisch. Die Lärmvermeidung sei minim und der Beitrag zum Klimaschutz zu gering, um die Einschränkung zu rechtfertigen. Der Zeitverlust von durchschnittlich 10 Minuten pro 100 Kilometer sei für Leute mit einem langen Arbeitsweg eine zusätzliche Belastung. Ausserdem würden die meisten Unfälle sowieso im Stadtgebiet passieren und viele Argumente für die Initiative bald aufgrund der Elektromobilität entfallen.
Ein weiteres Gegenargument kommt von einem echten Politiker, dem ehemaligen Nationalrat Dominique de Buman. Bei jeder Spielsession ist auch eine Person aus der Politik als Vertretung des Bundesrats mit dabei. De Buman argumentiert, dass die Gesetzeslage bereits alle Voraussetzungen für Geschwindigkeitsreduktionen bietet und die Initiative diese einschränken würde. Doch warum? Es ist ein winziges sprachliches Detail. Im Wortlaut steht «Der Bund begrenzt die Geschwindigkeit auf Autobahnen auf 100 km/h.» Doch geht es dabei um die maximale Geschwindigkeit? Oder soll immer und überall so schnell gefahren werden dürfen? Was ist mit Zonen, in denen die Geschwindigkeit heute auf 80 km/h oder weniger begrenzt ist? Nachdem alle Argumente dargelegt wurden, wird schliesslich abgestimmt – die Initiative wird abgelehnt und damit dem Volk vom Nationalrat zur Ablehnung empfohlen.
Wissen für später
Lehrerin Carola Espanhol hat die Diskussionen während der zwei Tage in Bern gespannt beobachtet. «Die Jugendlichen können aus der Debatte viel mitnehmen», erklärt sie, «etwa, dass Debattieren nicht persönlich sein darf.» Das Projekt mache im Politikunterricht einen grossen Unterschied, erzählt sie. «Wenn ich nur erklärt hätte, was eine Initiative ist, wäre ihnen das nie so gut in Erinnerung geblieben. Jetzt werden sie für immer wissen, wie die Schweizer Demokratie funktioniert.»