Viele Kinder haben auf der Flucht schlimme Erfahrungen gemacht und waren lange nicht in der Schule. (Foto: istock.com/verve231)
11. Juli 2017

Von der Flucht auf die Schulbank

Mehr und mehr Flüchtlingskinder besuchen in der Schweiz den Schulunterricht – für Lehrerinnen und Lehrer eine grosse Herausforderung. Unterstützung finden sie im Weiterbildungsangebot der Pädagogischen Hochschule der FHNW.

Jedes Kind hat das Recht, zur Schule zu gehen – das gilt auch für Kinder, die mit ihren Familien oder allein vor Krieg und Verfolgung in die Schweiz geflüchtet sind. Zurzeit leben hierzulande mehr als 20’000 Flüchtlingskinder im schulpflichtigen Alter (siehe Grafik), 3000 von ihnen kamen allein im vergangenen Jahr. Die meisten werden zunächst in speziellen Aufnahmeklassen unterrichtet, um dann nach und nach in reguläre Schulklassen integriert zu werden.

Das stellt die Schulen vor grosse Herausforderungen. Nicht nur, weil die meisten dieser Kinder bei ihrer Ankunft noch kein Wort Deutsch sprechen. Auch das Bildungsniveau ist sehr unterschiedlich: Manche sind in ihrem Heimatland bereits mehrere Jahre zur Schule gegangen, andere können weder lesen noch schreiben. Zudem sind viele Kinder traumatisiert. Sie haben im Krieg oder auf der Flucht schlimme Erfahrungen gemacht, etwa Angehörige verloren oder Übergriffe erlebt.

Anspruchsvolle Aufgabe

«Der Umgang mit diesen Kindern erfordert von den Lehrerinnen und Lehrern viel Sensibilität», sagt Christiane Lubos, Dozentin für interkulturelle Pädagogik der Pädagogischen Hochschule FHNW.

Um die Lehrpersonen bei ihrer anspruchsvollen Aufgabe zu unterstützen, führt Lubos zusammen mit anderen Mitarbeitenden der PH Weiterbildungen zum Thema «Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen in der Schule» durch. Die Nachfrage ist gross: Eine Tagung im vergangenen Herbst war sofort ausgebucht, sodass die Dozierenden dieses Frühjahr eine weitere organisierten. In den verschiedenen Workshops erhielten die Teilnehmenden unter anderem Informationen dazu, wie das Erlernen der deutschen Sprache gefördert werden kann, wo es geeignetes Unterrichtsmaterial gibt, wie die Integration der Kinder in die Klasse gelingt und wie Lehrpersonen reagieren können, wenn Schülerinnen und Schüler Anzeichen von Traumatisierung zeigen.

«Oftmals ist die Schule der einzige stabile Bezugspunkt im Leben der Flüchtlingskinder.»
Christiane Lubos, Dozentin für interkulturelle Pädagogik der Pädagogischen Hochschule der FHNW

Wie wichtig gerade Letzteres ist, hat Lubos selbst einmal auf einem Ausflug mit einer Schulklasse am 1. August erlebt: Als im Feuerwerk die Böllerschüsse losgingen, fing eines der Kinder an zu schreien und am ganzen Leib zu zittern. Damit es gar nicht erst zu solchen Situationen kommt, müssten Lehrerinnen und Lehrer über die Vergangenheit des Kindes Bescheid wissen, sagt Lubos.

Neue Beziehungen knüpfen

Dies sei ganz grundsätzlich wichtig, um auf die Bedürfnisse der verschiedenen Kinder eingehen zu können und ihnen den Einstieg in die Schule zu erleichtern. Denn die meisten der jungen Flüchtlinge seien zwar sehr wissbegierig und gingen gern in den Unterricht. «Aber viele Kinder müssen sich erst einmal wieder daran gewöhnen, in einem Klassenzimmer zu sitzen», weiss Lubos. Oft liegt der letzte Schulbesuch lange zurück. So wie bei dem zwölfjährigen Jungen aus Eritrea, der vier Jahre auf der Flucht war – ohne Eltern oder Verwandte. «Solche Kinder mussten lernen, sich allein durchzuschlagen», erklärt Lubos. «Für sie ist das Allerwichtigste, wieder Vertrauen und Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.» Dabei können Lehrpersonen eine zentrale Rolle spielen, indem sie klare Strukturen und Regeln vorgeben. Ausserdem sollten sie dem Kind das Gefühl vermitteln, willkommen zu sein. Beispielsweise, indem sie ihm ein Gspänli aus der Klasse zur Seite stellen, das ihm hilft, in der neuen Umgebung zurechtzukommen. Das fördert auch das Knüpfen neuer Freundschaften.

Lernen unter erschwerten Umständen

«Oftmals ist die Schule der einzige stabile Bezugspunkt im Leben der Flüchtlingskinder», sagt Lubos. Denn sie und ihre Familien leben häufig unter schwierigen Bedingungen. Viele sind in Sammelunterkünften untergebracht, in denen sich mehrere Personen ein Zimmer teilen. So haben die Kinder keinen Ort, an dem sie ungestört ihre Hausaufgaben erledigen oder lernen können. Belastend ist für sie auch, wenn unklar ist, ob und wie lange eine Familie überhaupt in der Schweiz bleiben kann. «Von all dem wissen die Lehrpersonen manchmal gar nichts», sagt Lubos.

Um ihnen Einblicke in das Leben von Flüchtlingsfamilien zu vermitteln, hat die FHNW-Dozentin kürzlich eine Informationsveranstaltung für Lehrpersonen der Primarstufe und Sek I durchgeführt. Diese fand im Rahmen der Wanderausstellung «Flucht» statt, die zurzeit im Stadtmuseum Aarau zu sehen ist. Dort erfuhren die Teilnehmenden unter anderem anhand typischer Flüchtlingsbiografien, was eine Flucht bedeutet oder wie ein Asylverfahren abläuft. «Das sind zwar sehr grundlegende Informationen», sagt Lubos. «Aber sie helfen, das Verständnis für die spezielle Situation der Flüchtlingskinder zu wecken und so ihre Integration besser gelingen zu lassen.»



«Ohne Arbeitsintegration kann gesellschaftliche Integration nicht gelingen.»

Neben der schulischen Integration von Flüchtlingen ist die Arbeitsintegration eine weitere gesellschaftliche Herausforderung. In den ersten drei Monaten dürfen Asylsuchende hierzulande nicht arbeiten. Doch auch danach finden Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge nur schwer Arbeit. Prof. Dr. Thomas Geisen von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW erklärt Hürden und Chancen der Arbeitsintegration von Flüchtlingen.

Thomas Geisen von der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW beschäftigt sich intensiv mit der Arbeitsintegration von Flüchtlingen
Was sind die grössten Hindernisse bei der Integration von Flüchtlingen in den schweizerischen Arbeitsmarkt?

Für viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber ist der administrative Aufwand, der mit einer Anstellung von Flüchtlingen – insbesondere von vorläufig Aufgenommenen – verbunden ist, ein grosses Hindernis. Zwar gibt es offene Stellen, doch fehlt es bei den Flüchtlingen häufig an den passenden Qualifikationen für diese Stellen. Auch die fehlende Anerkennung von formell oder informell erworbenen Kompetenzen im Herkunftsland macht es vielen schwer, hier eine adäquate Arbeit zu finden, ebenso wie mangelnde Sprachkenntnisse.
Daneben kann es Gründe geben, die in der jeweiligen Person selbst liegen, etwa gesundheitliche oder psychische Beeinträchtigungen. Auch Motivationsverlust, wenn sich Menschen in neuen Tätigkeitsfeldern orientieren müssen, nicht selten weit unter ihrer eigentlichen Qualifikation. Nicht zuletzt sind auch unzureichende Beratungs- und Qualifizierungsangebote Hürden für die Integration in unseren Arbeitsmarkt.

Welche Massnahmen hat man ergriffen, um diese Hürden abzubauen und die Arbeitsintegration zu fördern?

In den vergangenen Jahren wurden auf kantonaler Ebene vermehrt Anstrengungen unternommen. So haben einige Kantone mit dem Einsatz eines Arbeitscoachings gute Erfolge erzielt, andere mit systematisierter Potenzialabklärung und Qualifikationsaufbau.
Die Kantone überarbeiten zudem derzeit ihre Strukturen und Zuständigkeiten, um Mehrspurigkeiten zu vermeiden und Abläufe effizienter zu gestalten. Heute sind beim Thema Arbeit und Qualifizierung von Flüchtlingen teilweise unterschiedliche Departemente involviert, sodass für jeden Einzelfall eine interne Koordination notwendig ist. Das ist natürlich sehr aufwendig. Hier muss insbesondere in den Kantonen und auch im Zusammenspiel mit der Bundesebene ein Umdenken stattfinden. Wir brauchen bessere, praktikablere Ansätze für eine möglichst schnelle Arbeitsintegration von Flüchtlingen.

Der Nationalrat hat im Juni eine komplette Neuregelung des Status der vorläufigen Aufnahme entschieden. Mit dem neuen Status «geschützte Aufgenommene» sollen zumindest diejenigen Flüchtlinge, bei denen sich aufgrund der Situation in ihrem Herkunftsland abzeichnet, dass sie sich länger in der Schweiz aufhalten, bei der Integration besser unterstützt werden, insbesondere auch bei der Arbeitsintegration. Mit dem Ziel, die Betroffenen besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren – aus meiner Sicht ist das ein überfälliger Schritt, der in die richtige Richtung geht. 

«Flüchtlinge sind eine heterogene Gruppe, der wir nicht mit pauschalen Regelungen gerecht werden können.»
Thomas Geisen, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
Neben strukturellen Problemen und mehrspurigen Zuständigkeiten – wo hakt es derzeit noch?

Was immer noch fehlt, sind rechtliche Anpassungen im Asylrecht, die der Arbeitsintegration oberste Priorität einräumen. Wir müssen Massnahmen und Angebote entwickeln, die sich flexibel an den konkreten, individuellen Bedarfen von Flüchtlingen orientieren. Denn «Flüchtlinge» sind eine überaus heterogene soziale Gruppe, der wir nicht mit pauschalen Regelungen gerecht werden können. Bestehende Regelungen müssen zudem vereinfacht werden. So braucht es meines Erachtens auch einen sofortigen und uneingeschränkten Zugang für Flüchtlinge zum Schweizer Arbeitsmarkt, vom ersten Tag ihres Aufenthaltes an. Nur dann wird es gelingen, mehr Flexibilität bei der Integration zu erreichen und die vorhandenen Potenziale gezielter zu nutzen.

Welche Aufgaben kann die soziale Arbeit bei der Integration von Flüchtlingen in die Arbeitswelt übernehmen?

Die soziale Arbeit als Profession ist hier auf unterschiedlichen Ebenen gefordert: Einerseits muss in den Institutionen und Organisationen, die Massnahmen zur Arbeitsmarktintegration anbieten, der Erfolg dieser Massnahmen immer wieder evaluiert werden, damit die Angebote kontinuierlich weiterentwickelt und verbessert werden können. Andererseits müssen die Qualifikationen der Fachpersonen, die in der Arbeitsintegration tätig sind, gezielt ausgebaut und verbessert werden, damit sie besser in der Lage sind, mit sehr komplexen Fällen umzugehen – interkulturelle Kompetenz ist hier ein wichtiger Aspekt.

In unseren Weiterbildungsangeboten zu Arbeitsintegration und Eingliederungsmanagement haben wir bereits darauf reagiert und gezielt migrationsspezifische Angebote entwickelt. Gleichzeitig führen wir einen intensiven Dialog mit den Akteuren in der Arbeitsintegration von Flüchtlingen. Im Rahmen eines anwendungsorientierten Forschungsprojektes, das wir gerade entwickeln, wollen wir gemeinsam mit den relevanten Akteuren die Wissensgrundlagen verbessern, um dann auch bessere Unterstützung in der konkreten Umsetzung bieten zu können. Dieses Vorhaben bearbeiten wir gemeinsam mit der Hochschule für Wirtschaft FHNW, da es vielfältige Kompetenzen braucht, um solche Herausforderungen umfassend zu bearbeiten.

Ich sehe in diesem Feld insgesamt derzeit noch grossen Forschungs- und Entwicklungsbedarf. Handlungsleitend ist für uns als praxisorientierte Hochschule dabei besonders die Nachhaltigkeit unseres Handelns. Denn die Frage der Arbeitsintegration von Flüchtlingen ist letztlich eine neue Frage für unsere Gesellschaft. In der Vergangenheit wurde dem Thema längst nicht die Beachtung geschenkt, die erforderlich gewesen wäre, damit wir heute auf bessere Massnahmen und Programme zurückgreifen können.

Sie haben viel Kontakt mit Unternehmen. Welche Erfahrungen machen diese mit der Beschäftigung von Flüchtlingen?

Viele berichten über die tolle Motivation und das hohe Engagement. Andere wünschen sich von Anfang an beispielsweise bessere Sprachfähigkeiten der Flüchtlinge, damit sie noch mehr profitieren können. Insgesamt scheint mir der Tenor bei den Arbeitgebenden jedoch eher positiv zu sein. Die Probleme bewegen sich meist in einem auch bei anderen Angestellten üblichen Rahmen –, etwa wenn ein Mitarbeiter den Anforderungen des Arbeitsplatzes nicht gewachsen ist oder wenn Konflikte im Team auftreten. Was engagierte Arbeitgebende sich vielfach wünschen, ist eine Reduktion des bürokratischen Aufwandes, eine bessere Unterstützung von Fachpersonen bei der Arbeitsintegration – zum Beispiel im Rahmen eines Coachings – sowie auch eine Würdigung ihres Engagements.

Welche Chancen bietet die Anstellung von Flüchtlingen für Unternehmen, Wirtschaft und Gesellschaft aus Ihrer Sicht?

Wir müssen uns im Klaren sein, dass Flüchtlinge angesichts von demografischem Wandel und Fachkräftemangel auch eine wichtige, bislang nicht ausreichend ausgeschöpfte Arbeitsmarktressource darstellen. Es lohnt sich daher zuallererst für die Flüchtlinge, wenn sie für sich neue Perspektiven erschliessen können; für die Wirtschaft, wenn sie motivierte Beschäftigte erhält; und sowohl aus volkswirtschaftlicher als auch aus sozialpolitischer Sicht natürlich auch für unsere Gesellschaft. Denn je besser die Arbeitsintegration gelingt, desto besser gelingt auch der Integrationsprozess in die Gesellschaft insgesamt.

Herr Geisen, vielen Dank für das Gespräch.
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