Wenn Gesichter keine Rolle spielen
Persönliche Vorurteile beeinflussen den Bewerbungsprozess: Immer wieder werden Bewerbende aufgrund ihres Nachnamens, ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechts abgelehnt. Häufig geschieht das unbewusst und nicht unbedingt böswillig. Doch die Betroffenen sind in jedem Fall benachteiligt.
«Schön, dass Sie sich alle einloggen konnten», erklingt eine undefinierbare Stimme durch den Cyberspace, nicht ganz männlich, nicht ganz weiblich. Auch die anwesenden vier Avatare wirken undefinierbar und erinnern eher an geometrische Figuren als an Menschen. Wir befinden uns in einem virtuellen Vorstellungsgespräch, das Diskriminierung verhindern soll. Dalibor Bajunovic, Absolvent im Studiengang Industrial Design an der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW, hat den virtuellen Raum sowie die Avatare und das Bewerbermanagement-Tool entworfen. Im Rahmen seiner Bachelorarbeit untersuchte er, wie Räume, Figuren und Prozesse gestaltet werden sollten, damit bewusste oder unbewusste Vorurteile gar nicht erst entstehen. Bajunovic wollte damit den Bewerbungsprozess anonymisieren und ihn durch die Verlagerung ins Metaverse – eine interaktive 3D-Welt im digitalen Raum – möglichst neutral halten.
Vorurteile durch alle Bevölkerungsschichten
«Aufgrund meines Nachnamens kenne ich das Gefühl, in Bewerbungsprozessen den Kürzeren zu ziehen», erzählt Bajunovic. «So wurde mir einmal direkt gesagt, dass ich ohne Empfehlung aufgrund meines Fotos in Kombination mit meinem Nachnamen gar nicht erst hätte eingeladen werden sollen.» Nicht wenige Personen machen ähnliche Erfahrungen. Laut einer Studie der ETH Zürich von 2020, schreibt Bajunovic in seiner Arbeit, würden ausländische Bewerbende durchschnittlich 6.5 Prozent seltener zu einem Gespräch eingeladen. Auch das Geschlecht, das Alter oder Behinderungen führten zu Diskriminierungen.
Nur die Leistung zählt
Für sein Projekt interviewte Bajunovic Betroffene sowie Human Resources (HR)-Angestellte und analysierte Bewerbungsprozesse. Dann entwickelte er ein System, das subjektive Faktoren wie Sympathien oder Vorurteile weitgehend ausschaltet. Der erste Schritt im neuen Bewerbungsprozess unterscheidet sich noch kaum von herkömmlichen digitalen Bewerbungen: Man gibt seine Daten, Ausbildung, Werdegang und Qualifikationen ein. Die Daten werden jedoch von einer künstlichen Intelligenz anonymisiert. Sie entfernt auch charakteristische Hinweise auf die Bewerber*in, sodass nur die Informationen zu Leistungen und Fähigkeiten sichtbar bleiben. Ein Computerprogramm stellt dann unter Berücksichtigung vordefinierter Faktoren eine möglichst diverse Liste aus geeigneten Kandidatinnen zusammen.
Das erste Gespräch findet per Video durch einen Chatbot statt, der vordefinierte Fragen stellt. Dabei kommt erneut eine Software zum Einsatz, die die Teilnehmenden als Avatare unkenntlich macht und die Stimme so verändert, dass keine Rückschlüsse auf das Geschlecht möglich sind. In der nächsten Runde folgen Assessments. Wenn diese erfolgreich verlaufen sind, treffen sich beide Parteien mit einer Virtual Reality (VR)-Brille zum Einstellungsinterview im Metaverse. Dort dominieren ruhige, schlichte Räume in Grau- und Pastelltönen. Sie sollen ein Ambiente schaffen, in dem sich die Teilnehmenden wohl fühlen und nicht zu sehr von der Umwelt abgelenkt werden. «Für die Avatare in unserem Metaverse habe ich bewusst Figuren entworfen, die möglichst neutral wirken», erklärt Bajunovic. Es sind Zylinder, Kegel, ovale Körper und andere geometrische Figuren in schlichtem Schwarz-Weiss-Muster – nur wenig erinnert noch an Menschen.
Inspiriert vom Bauhaus
Sven Adolph, Dozent am Studiengang Industrial Design, hat die praktische Umsetzung des Themas betreut und ist stolz auf seinen Studenten: «Selbst von grossen Firmen wie Meta, vormals Facebook, wird das Metaverse immer sehr naiv kindlich oder videospielartig dargestellt. Dalibor Bajunovic wollte, der Wichtigkeit des Themas Rechnung tragend, einen passenderen gestalterischen Ausdruck finden. Dazu hat er bei seinem Konzept in die Vergangenheit geblickt und sich an den zeitlosen Kreationen des Bauhauses orientiert, etwa am Triadischen Ballett, das den menschlichen Körper mit geometrischen Figuren abstrakt darstellte. Diese künstlerischen Schöpfungen sind nun bereits einhundert Jahre und älter, haben aber nichts an ihrer futuristischen Ästhetik eingebüsst.»
Auch Meret Ernst, Dozentin für Designgeschichte und Designtheorie an der FHNW, lobt die Arbeit: «Design umfasst mehr als die Entwicklung und Gestaltung analoger Produkte. Heute geht das viel weiter: Design gestaltet Erfahrungen und entwickelt komplexe Prozesse. Gute Abschlussarbeiten zeigen Möglichkeiten auf, die mit Hilfe von Prototypen besser zu verstehen sind.»
Zurück in der realen Welt
Wenn das Bewerbungsgespräch im Metaverse positiv verlaufen ist, kommt es zum ersten realen Treffen. «Ganz vermeiden kann man diese Begegnung nicht, denn wir arbeiten nun einmal mit echten Menschen, in der echten Welt», sagt Bajunovic. Falls eine Person nach dem realen Treffen doch noch eine Absage erhalten sollte, müssen der KI die Gründe mitgeteilt werden. So lernt sie, wo die Probleme lagen und findet heraus, ob jemand voreingenommen entschieden hat.
Auch wenn der erste Probedurchlauf des virtuellen Bewerbungsprozesses steht, wird es noch eine Weile dauern, bis Bewerbungen neutral im Metaverse stattfinden. Erst muss Akzeptanz erreicht werden, denn womöglich kann die neutrale Form des Bewerbens Kandidat*innen verunsichern. Zudem brauchen die Bewerbenden eine leistungsfähige digitale Infrastruktur. «Nicht jeder verfügt über schnelles Internet und einen Metaverse-fähigen Computer», sagt Bajunovic kritisch. «Somit ist auch hier bei der Infrastruktur eine gewisse Diskriminierung möglich.» Er wolle aber auch kein fertiges Produkt liefern, sondern eine Diskussion entfachen: über die Zukunft der Arbeitswelt, aber auch über uns selbst und wie wir uns als Gesellschaft stetig weiterentwickeln.